TietzelsTipp: Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela Krien

Es ist Sommer und Maria wird bald, im August, 17 Jahre alt. Seit Mai lebt sie mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern in einem kleinen, grenznahen Örtchen in der ehemaligen DDR. Maria kommt aus dem Nachbardorf. Man schreibt das Jahr 1990, die „Wende“ hat soeben erst stattgefunden, die Mauer ist offen, man kann in den Westen. Johannes und Maria machen einen Tagesausflug in den Westen, wo Johannes sich eine teure Kamera kauft. Er wird fortan fotografieren. Beide gehen noch zur Schule. Johannes macht gerade seinen Abschluss, Maria hat beschlossen, nicht mehr zu Schule zu gehen. Sie glaubt, dass sie den Abschluss ohnehin nicht schaffen würde. Außerdem liegt sie lieber im Gras oder sonst wo und liest. Im Augenblick: die Brüder Karamasow. Allerdings fügt sie sich ein in das Leben und den Rhythmus auf dem Brendel-Hof und nach und nach macht sie sich dort sogar nützlich.

Irgendwie berührt es einen seltsam, dass das alles so sang- und klanglos über die Bühne geht: Der Sohn, ein Schüler noch, bringt seine 16jährige Freundin mit nach Hause, und die beiden leben dort zusammen. Maria geht nicht mehr zur Schule und niemand nimmt daran Anstoß. Ganz stimmt das nicht, später wird man versuchen, in dieser Beziehung auf Maria Einfluss zu nehmen, aber erstmal sagt niemand etwas dagegen, nicht einmal Marias Mutter. Die hat auch ganz andere Sorgen, denn ihr geschiedener Mann wird eine Russin heiraten, die kaum älter ist als seine Tochter Maria.

Der träge, heiße Sommer plätschert so dahin, bis Maria den Henner trifft. Dem gehört der zweite große Hof in Sichtweite. Henner ist 40 Jahre alt und irgendwie ein verkommenes Subjekt, jedenfalls ist ihm eine Frau weg gelaufen, man weiß nicht genau warum. Er säuft, und was den Hof betrifft, so kümmert er sich allein um seine Pferde. Zwischen Maria und dem Henner funkt es so unmittelbar und gnadenlos heftig, dass alles andere daneben bedeutungslos ist. Nichts kann die beiden stoppen, nicht der unmögliche Altersunterschied, nicht die Angst vor Entdeckung und den Konsequenzen. Maria, der wir als Ich-Erzählerin begegnen, beschreibt ihren inneren Aufruhr, ihre Ekstase, ihre wahnsinnige Angst, entdeckt zu werden und ihren unbedingten Willen, den Henner wieder und wieder zu treffen. Sie lügt und betrügt die Menschen auf dem Brendel-Hof, ihre Mutter und natürlich ihren Freund Johannes. Sie schämt sich dessen, aber sie kann und will einfach nicht anders. Das ist meisterlich erzählt. Man fiebert mit, lässt sich hineinziehen in diese unmögliche Beziehung aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Instinktiv malt man sich mögliche Alternativen einer Lösung aus, so wie Maria selbst, die am Ende beschließt, sich offen zum Henner zu bekennen. Aber der Schluss soll hier nicht verraten werden.

Brigitte Tietzel

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