TietzelsTipp: Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens

Im wasserdurchzogenen, teils sumpfigen Marschland an der Küste North Carolinas lebt Kya mit ihrer Familie. Als sie sechs Jahre alt ist, verlässt ihre Mutter diese Familie, das heißt ihre fünf Kinder. Schnell ist klar, dass der gewalttätige, dem Alkohol verfallene Vater der Grund dafür ist. Innerhalb eines Jahres verlassen auch alle vier deutlich älteren Geschwister die trostlose Hütte, und Kya bleibt mit dem Vater allein. Kaum zu glauben, dass es dem Kind gelingt, sich mit dem wenigen Geld, das der Vater Kya ab und zu gibt, über Wasser zu halten. In der nicht allzu weit entfernten Stadt geht sie Grieß einkaufen, fast immer nur Grieß. Sie versucht, diesen Grieß irgendwie zu kochen, versucht das Wenige, das sie bei der Mutter abgeschaut hat, nachzumachen, mit wenig bis gar keinem Erfolg. Sie ernährt sich von Steckrüben, die sie noch im Garten findet. Irgendwann, da muss sie sieben Jahre alt sein, wird sie abgeholt, weil sie zur Schule gehen muss. Dort erfährt sie schon am ersten Tag durch die anderen Kinder all die Verachtung und das Misstrauen, das die Erwachsenen gegenüber den Menschen aus der Marsch, dem Sumpfgesindel, hegen. Kya wird nie wieder in die Schule gehen, und die Suche nach ihr durch die Obrigkeit ist wenig anhaltend. Man lässt sie einfach allein.

Als auch der Vater nicht mehr auftaucht, da ist Kya zehn Jahre alt, hat sie überhaupt kein Geld mehr und sammelt Muscheln, die sie einem Schwarzen namens Jumpin gegen Benzin für ihr kleines Boot und etwas Geld anbietet. Jumpin ist der einzige Mensch, dem sie vertraut und der immer zu ihr hält.

Eines Tages trifft sie Tate im Marschland, einen Jungen, der früher mit ihrem Bruder befreundet war. Zwischen diesen beiden entwickelt sich – unendlich langsam und behutsam, eine Beziehung. Tate bringt ihr lesen und schreiben bei und bringt ihr Bücher. Beide verbindet ihre Liebe zur Natur. Aber auch Tate wird sie verlassen, als er zum Studium geht und nicht mehr wiederkommt. Dieser nochmalige Verlust berührt Kya bis ins Innerste. Jahre später lässt sie sich mit Chase Andrews ein, der ihr die Ehe verspricht, aber natürlich eine andere heiratet. Als Chase versucht, Kya zu vergewaltigen, fällt er kurze Zeit später von einem Aussichtsturm und stirbt. Kya wird des Mordes angeklagt.

Hier soll weder der Ausgang des Gerichtsverfahrens verraten werden, noch das Ende des Romans. Das Buch hat eine wundervolle Stimmung, die dem Leser die Einsamkeit des Mädchens ebenso vermittelt wie ihr Glück, auf solche Weise in der Natur zu leben. Man ist bereit, die vielen Unwahrscheinlichkeiten einfach hinzunehmen: dass ein so kleines Mädchen unter den beschriebenen widrigen Umständen überhaupt überlebt, dass ein Mensch, der jahrelang mit niemandem gesprochen hat, nicht verblödet, sondern plötzlich Fachbücher in Biologie lesen und verstehen kann, dass die schüchterne, misstrauische Kya sich tatsächlich mit einem solchen Stinkstiefel wie Chase Andrews einlässt –  all das spielt wirklich keine Rolle. Man wird mitgenommen vom Fluss des Geschehens und möchte alles glauben.

Brigitte Tietzel

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