Es ist schon eine sehr ungewöhnliche Geschichte, in die der Protagonist dieses Buches hineingezogen wird. Eine junge Frau, Mie, beobachtet, wie er auf einem Friedhof herumtanzt und spricht ihn an. Dieser „er“ genannte Mann, dessen Namen im gesamten Roman nicht genannt wird, ist gerade in einer schwierigen Lebensphase. Er ist in den Ruhestand versetzt worden, hat aber noch keinen Weg gefunden, damit umzugehen. Seine Frau im Übrigen auch nicht. Er kommt gerade vom Arzt, wo ihm – enttäuschenderweise – mitgeteilt wurde, dass er völlig gesund ist, und nun trampelt und tanzt er in einem plötzlichen Anfall von Ausgelassenheit auf den ärztlichen Unterlagen auf diesem Friedhof herum.
Mie erzählt ihm, dass sie Schauspielerin ist und ihr Geld damit verdient, „Familie zu spielen“. Sie überredet ihn, sich ebenfalls darauf einzulassen. Es gäbe Menschen, die zu einer bestimmten Gelegenheit einen „Verwandten“ mieteten, der für ein paar Stunden eine perfekte Rolle zu spielen habe, dann aber ohne Konsequenzen, Gefühle, Bindungen aus dem Leben des Auftraggebers wieder zu verschwinden habe. Das könne eine Tochter sein oder eine Tante, ein Bruder, Vater, Ehemann. Mie engagiert Herrn Katō, so nennt sie ihn einfach, und gibt ihm verschiedene Aufträge. Er lässt sich mit großem Engagement auf diese teilweise rührenden, teilweise absurden Situationen ein.
Der Roman lebt im Übrigen ganz von den Gedanken, die sich dieser Herr Katō, wie ich ihn der Einfachheit halber ebenfalls nennen möchte, macht: Gedanken über sein Leben, über seine Frau und seine Ehe, über seine ehemaligen Arbeitskollegen. So lernen wir ihn kennen. Er grübelt über unterlassene Vorhaben, zum Beispiel eine Reise nach Paris, die er im Ruhestand mit seiner Frau machen wollte, die er sogar akribisch vorbereitet hat, zu der es aber nie gekommen ist. Vieles möchte er ändern oder wenigstens ansprechen. Das meiste bleibt ungesagt oder, wenn es zur Sprache kommt, rudert er sofort zurück. Da hat sich etwas eingeschlichen in sein Leben, in seine Ehe, das ist festgefahren, und er kommt so leicht da nicht wieder raus. Als gemieteter „stand-in“, so werden die Personen genannt, die für bestimmte Wünsche einspringen, ist er dagegen einfühlsam, und sogar redegewandt.
Schließlich steigt Mie aus dem Geschäft aus und damit hat die Geschichte auch für Herrn Katō ein Ende. Aber er hat ja noch seine eigene Familie. Nur ist die kein Spiel, sondern ziemlich ernst. Hier fühlt sich Herr Katō unfähig, minderwertig, ausgeschlossen beispielsweise aus der Beziehung zwischen Muter und Tochter. Erst als er zusammenbricht, können Dinge geregelt werden, die sein verfahrenes Leben tatsächlich einigermaßen ins Lot bringen.
Ein kluges Buch über die Probleme des Alters, in dem der Mensch sich neu ausrichten muss. Da Herr Katō und seine Frau sich lieben und im Grunde eine gute Ehe geführt haben, ist ein versöhnliches, wenngleich unspektakuläres und daher glaubhaftes Ende möglich.
Brigitte Tietzel