TietzelsTipp: Fräulein Nettes kurzer Sommer von Karen Duve

Selten war ich bei der Lektüre eines Romans so froh, im 21. Jahrhundert zu leben. Um 1820 muss das Leben für Frauen eine Hölle aus Stumpfsinn und Langeweile gewesen sein. Wenigstens in den hier beschriebenen adeligen Kreisen, die die Welt der Annette von Droste-Hülshoff ausmachten. Geradezu körperlich spürt man die grenzenlose Borniertheit einer Gesellschaft, die von Mädchen und Frauen verlangte, sittsam herumzusitzen, den Kopf bescheiden über eine Handarbeit gebeugt. Sie sollten möglichst weder klug noch interessant sein, oder es sich zumindest nicht anmerken lassen. Sie sollten sich nicht in Männergespräche einmischen, nicht die Stimme erheben und sich in allem zurückhalten. Nette  dagegen war genau das, was sie nicht hätte sein sollen und nicht hätte sein dürfen: gescheit, neugierig, vorlaut und von naiver Offenheit gegenüber jedermann. Und sie hasste Handarbeiten. Außerdem schrieb sie Gedichte und anderes dummes Zeug. Mit einem Wort: Sie war unmöglich.

Und trotzdem oder gerade deswegen bemühten sich in jenem Sommer, 1820, die Männer um sie und nicht etwa um ihre fast gleichaltrigen, viel hübscheren  Tanten Haxthausen. Zum allgemein männlichen Dünkel kamen in der damaligen Zeit noch der religiöse und der des Adels hinzu. Ein Bewerber durfte weder die falsche Religion haben, noch etwa bürgerlich sein.

Gänzlich unbekümmert von all dem wendet sich Annette einem gewissen Straube zu, einem bürgerlichen Freund ihres Onkels August, der diesen aus seinen Göttinger Studentenkreisen kennt und finanziell unterstützt, weil er ihn für ein Genie hält. Annette ist klug genug, diese Einschätzung nicht zu teilen. Aber Straube ist der einzige Mensch, der ihre Gedichte ernst nimmt, sie sogar schätzt. Mit Straube kann Nette ohne Scheu ihren Gedanken Ausdruck verleihen und wird verstanden, mit Straube kann sie ganz und gar sie selbst sein. Eine tiefe Zuneigung entsteht, die aber niemand ernst nimmt, weil eine solche Mesalliance einfach gar nicht möglich ist. Als ein weiterer Freund des Onkels, der adelige Arnswaldt, ein bigotter Intrigant, Nette, die er vorgibt zu verachten, den Hof macht und abgewiesen wird, schürt dieser Mensch Gerüchte, die fatale Folgen haben. Der lange angestaute Groll der Verwandtschaft über diese so unangepasste Person kann sich endlich entladen. Dem grenzenlosen Hass, der über Nette hereinbricht, hat sie nichts entgegenzusetzen, da ihre Erziehung sie dazu bringt, sich schuldig zu fühlen, auch wenn gar nichts passiert ist. Das aber genügt nicht, auch der Ruf muss untadelig sein. Ihr Schicksal ist besiegelt, sie wird nicht heiraten und sich in Zukunft unterordnen. Obwohl dies ein Roman ist, beruht er doch auf biographischen Ähnlichkeiten im Leben der Dichterin.

Karen Duve malt ein grandioses Zeitpanorama, in dem die Enge der Gesellschaft, die maßlose gegenseitige Kontrolle aller durch alle schmerzlich spürbar wird, in so wunderbaren Beschreibungen wie dem Besuch bei den Brüdern Grimm in Kassel, in Nettes Kuraufenthalt mit der Großmutter in Bad Driburg oder den unentwegten, zahllosen Verwandtenbesuchen.

Brigitte Tietzel

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