Es sind Momentaufnahmen, sowohl das Gemälde, um das es hier geht – „Das Konzert“ oder „Der Sommerabend“ – als auch Heinrich Vogelers Gedanken, die er anlässlich der Verleihung der Großen Medaille für Kunst und Wissenschaft in Oldenburg, über sein Leben, seine Kunst, seine Freunde anstellt. 1905 ist das, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes in dieser Frühzeit seines Schaffens.
Modick teilt den Roman in drei Tage auf, die Tage vor der Verleihung der Medaille und den Tag der Verleihung selbst. Das Bild, für das er ausgezeichnet werden soll, ruft Erinnerungen in Vogeler wach, an die vergangenen Jahre in Worpswede. Die Künstlerkolonie war ein Traum, wie es so viele gab und gibt, wenn junge Menschen, die ein gemeinsames Ziel haben, sich zusammentun. Es ist eine Zeit des Glücks, von dem die Betroffenen einfach annehmen, dass es ewig währen wird. Vogeler wollte mit dem Gemälde die Atmosphäre eines besonders schönen Abends einfangen, wollte die Stimmung dieses glücklichen Augenblicks verewigen.
Aber so ein Gemälde entsteht nicht an einem Tag. Vogeler arbeitete schließlich vier oder fünf Jahre daran. Und in dieser Zeit hatte sich eben sehr viel im Verhältnis der Künstlerfreunde zu einander verändert. Das Bild entwickelte sich für den Maler zum Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte. Am Tag der Verleihung wollte er es dem Mäzen, dem er es ohnehin nur widerwillig überlassen hatte, wieder abkaufen, tatsächlich, um es zu zerstören. Daraus wurde nichts. Es war auch nicht nötig, denn der Moment, den Vogeler einfangen wollte, war längst vergangen, und die Erinnerung daran würde trotz allem bleiben.
Der Dichter, der auf dem Gemälde fehlt, ist Rilke, den Vogeler zuerst in Florenz getroffen, dann in Berlin wiedergesehen hatte und der schließlich nach Worpswede kam, um dauerhaft dort zu bleiben. Die beiden Männer empfanden sich als seelenverwandt. Das leicht skandalöse Dreiecksverhältnis zwischen Rilke und Paula Becker, die dann Otto Modersohn heiraten sollte, und Clara Westhoff, die Rilkes Frau wurde, scheint zunächst eine unbürgerliche Bereicherung der ohnehin mit anderen Maßstäben zu bewertenden Worpsweder Künstlergemeinschaft. Und doch lag darin schon der Anfang vom Ende. Rilke war ein Störfaktor, und obwohl Vogeler dessen Dreistigkeiten, vor allem in finanzieller Hinsicht, zunächst zu tolerieren versuchte, so verspürte er die Entfremdung, die hauptsächlich aus Rilkes ungeheurer Selbstbezogenheit resultierte, immer deutlicher. Deswegen entfernte er den Dichter schließlich aus dem Gemälde Was sich hier in Vogelers Überlegungen andeutet, die Krise seiner Ehe, die Abkehr vom Dekorativen in der Kunst, die Auflösung der Künstlerkolonie, wird sich in seinem späteren Leben konkretisieren. Aber hier in dem Roman sind wir im Jahr 1905: wie gesagt, eine Momentaufnahme.
Brigitte Tietzel