TietzelsTipp: Ein Festtag von Graham Swift

Der 30. März 1924, Mothering Day, Muttertag. Die Dienstboten bekommen frei an diesem Sonntag, um ihre jeweiligen Mütter zu besuchen. Jane Fairschild ist 22 Jahre alt und Dienstmädchen im Hause der Nivens, und auch sie bekommt frei, obwohl sie Waise ist und keine Mutter besuchen kann. Für sie soll es dennoch ein Festtag ganz besonderer Art werden. Ein Tag zudem, an den sie sich ihr Leben lang erinnern wird. An diesem Tag nämlich bekommt sie einen Anruf von Paul Sheringham, der bald Emma Hobday heiraten wird, beide Angehörige einer Oberschicht. Der Anruf beordert Jane zum Hause der Sheringhams. Beordert muss man es wohl nennen, obwohl die beiden bereits seit langer Zeit ein Liebespaar sind. Anders als all die Male vorher treffen sich Paul und Jane nicht in einem heimlichen Versteck. Sie soll zum Haupteingang des Hauses kommen, der ihr zudem vom Sohn des Hauses, von Paul, geöffnet wird. Das ist ein unerhörter Vorgang, und Jane ist sich seiner Einmaligkeit, seiner Unwiederholbarkeit durchaus bewusst, und sie genießt das. Möglich wurde die Begegnung, weil sowohl die Herrschaft als auch die Dienstboten wegen des Festtages nicht im Hause sind und auch nicht zurückkommen  werden.

Nachdem die beiden sich geliebt haben, liegt Jane nackt auf dem Bett und beobachtet Paul wie er, ebenfalls nackt, im Sonnenlicht durch das Zimmer geht. Er muss seine Verlobte zum Lunch treffen, aber er beeilt sich nicht, macht eher langsam, als er sich anzieht und genießt es seinerseits, dass Jane ihm dabei zusieht. Sie sprechen nicht mit einander. Erst als Paul sich verabschiedet, fordert er Jane auf, das Haus als das ihre zu betrachten. Dann geht er, und Jane nimmt das Haus tatsächlich auf ihre Weise in Besitz, indem sie nackt, wie sie ist, durch alle Räume spaziert. Das alles wird quälend langsam erzählt. Man weiß nicht, ob man befürchten soll, es käme doch jemand nach Hause und überraschte das nackte Dienstmädchen in dieser fremden Umgebung.

Und dann ist da ein Satz, der dem Ganzen eine neue Bedeutung gibt. Es schlägt 2 Uhr und: „Jane wusste nicht, dass er da schon tot war.“ Nach und nach erfährt der Leser, der bis dahin nur Janes Sicht der Dinge, ihre Gedanken und Überlegungen kannte, was an diesem Tag sonst noch geschah, wie Paul gestorben ist. Und wie Jane mit den Neuigkeiten, die man ihr unterbreitet, umgehen muss, denn der Tod des Sohnes aus gutem Hause kann von ihr nur in zurückhaltender Weise aufgenommen werden. Wenige eingestreute Bemerkungen machen deutlich, dass diese Geschichte aus der Sicht der sehr viel älteren Jane erinnert wird.

Das weitere Leben der Jane Fairchild ist ungewöhnlich, erklärt aber die haargenaue Analyse dieses Festtages. Sie wird ihre Stellung aufgeben, in Oxford zunächst in einer Buchhandlung arbeiten und schließlich Schriftstellern werden, ehe sie, fast 100jährig, selber stirbt.

Brigitte Tietzel

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