Auf jeder Seite dieses Buches meine ich die Distanz zu spüren, die die Autorin Georg entgegenbringt, der doch ihr Vater ist, und dessen Anerkennung und Liebe sie sicher gesucht hat. Sie beschreibt diesen Vater als beobachte sie ihn aus der Ferne. Dabei bemüht sie sich um Objektivität, und das gelingt ihr auch. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies ein rationaler Kraftakt ist, der die Gefühle einer Tochter im Grunde überfordert.
Georg Honigmann, geboren 1903, war Jude, Journalist und Bohemien, dazu ein Frauenheld, oder sollte man besser sagen, ein Mann, der von Frauen nicht lassen konnte. Er hat viermal geheiratet, es kamen zahllose Geliebte hinzu, allesamt besonders junge Frauen. Die Tochter stammt aus der zweiten Ehe des Vaters und hat alle weiteren Frauen miterleben müssen. Auch nach der Scheidung der Eltern sahen sich Vater und Tochter regelmäßig an den Wochenenden und sind sich wohl zeitlebens nahe gewesen. Während die Tochter sich für das Leben des Vaters, brennend interessierte und ihn immerzu aufforderte, zu erzählen, verbündete sich der Vater mit ihr in eine fragwürdige Gemeinschaft als „wir Männer“. Das muss sehr verstörend gewesen sein, weil er damit letztlich die Identität des Kindes verleugnete. Auch nannte er sie, wie auch seine zweite Tochter aus vierter Ehe: Anna, nach seiner geliebten Großmutter.
Georg lebte und arbeitete als Journalist in Berlin, Paris und später lange Jahre in London. Dorthin war er schon 1933 ausgewandert, und obwohl er in England einerseits sicher war, wurde er später doch wie andere Ausländer als enemy alien in ein Internierungslager nach Kanada gebracht. In London, noch mit seiner ersten Frau Ruth verheiratet, die er aus der Odenwaldschule kannte, lernte er Litzy kenne, die Mutter von Barbara Honigmann, die ihrerseits mit Kim Philby verheiratet war (den man in den 60er Jahren als Doppelagenten enttarnte). Litzy war wie Philby überzeugte Kommunistin und brachte auch Georg zum Kommunismus. Nach dem Krieg kehrten beide nach Deutschland, in die DDR zurück. Sie heirateten 1947, zwei Jahre später kam Barbara zur Welt. Auch diese Ehe ging in die Brüche, und der Glaube an die Wahrheiten des Kommunismus nahm im Laufe der Zeit stark ab.
Die dritte Ehe mit einer bekannten Schauspielerin war vielleicht seine große Liebe, denn unter der Trennung muss er sehr gelitten haben. Die vierte Frau und die zweite Tochter scheinen keine so große Rolle mehr in seinem Leben gespielt zu haben. Georg war offensichtlich ein Mann, der sich ganz auf seine jeweiligen Frauen und deren Freundeskreis einstellte, ja sich stark beeinflussen ließ. Gab er die Frauen auf, verließ er auch deren Umkreis. So blieb er im Grunde allein. Er konnte es nicht ertragen, wenn seine Tochter sich anderen Männern zu wandte oder erwachsen wurde. Denn, so befand er, sie war ja ein Teil von ihm. Seinen Frauen gegenüber wird er sich ähnlich verhalten haben. Es ist wohl dieser Mangel an Empathie, an Hinwendung zu anderen, vor allem geliebten Menschen, die den Eindruck von Unrast und Unstetigkeit vermitteln. Da scheint ein Graben bestanden zu haben, zwischen diesem Mann und seiner Umwelt, der nicht zu überbrücken war, auch nicht für seine Tochter.
Brigitte Tietzel