Die Nitribitt hielt Leo Böwe, als er ziemlich am Anfang des Romans und ganz am Anfang seiner beruflichen Karriere zum ersten Mal nach Frankfurt kam, für eine Schreibmaschine. Naiv war er und unbedarft, allerdings auch zuverlässig. Das hatte dazu geführt, dass er kurz vor dem Abitur, obwohl ein ausgezeichneter Schüler, die Schule verließ, um seine Freundin Liz zu heiraten, beide blutjung. Er wurde Waschmaschinenvertreter. Aus heutiger Sicht unverständlich, aber das waren andere Zeiten damals. Darum geht es in diesem Buch. Dass die Zeiten sich ändern. Und die Menschen. Aber ändern die sich wirklich? Der Leser wird diesen Leo Böwe bis ins neue Jahrtausend begleiten, ihn etwa alle zehn Jahre näher ins Visier nehmen. Man hangelt sich an den besonderen Zeitereignissen entlang.
Was es mit der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt auf sich hatte, die 1957 ermordet wurde, und mit den Frauen überhaupt, das lernt Leo schnell und auch, dass seine Ehe ein völliger Fehlschlag ist. Trotzdem wird er an dieser Ehe festhalten, wie auch an seinem Beruf, in dem er einigermaßen erfolgreich sein wird. Leo Böwe richtet sich ein in seinem Leben. Er betrügt seine Frau. Sie wird das eines Tages wissen, aber darüber wird nicht gesprochen. Traurigerweise muss man annehmen, dass die beiden ein ganz normales Leben führen, aber auch eines, das irgendwie vergeblich ist und das man selber nicht führen möchte. Dass Liz drei Fehl- beziehungsweise Totgeburten erleidet, rührt Leo wenig. Kaum kann er sich am Krankenbett mitfühlend zeigen. Auch zu seinem einzigen Kind, seiner Tochter Jule, hat er keine Beziehung. Sie ist ihm fremd, vielleicht die fremdeste von allen Frauen. Jule wird, als man im Fernsehen den Tod des Studenten Benno Ohnesorg mitbekommt, ausrufen: „Papi, wen ich groß bin, erschieße ich dich auch!“
Auch Jules Leben ist merkwürdig gefühllos. Vom einzigen Menschen, den sie wohl wirklich mag, ihrer Freundin Nina, fühlt sie sich verraten, als beide mit irgendwelchen Typen zum ersten Mal Sex haben. Der Bruch wird nie mehr zu kitten sein. Jule bekommt ein Kind von einem Bekannten ihres Vaters, einen Sohn, Fritzi, von dem dann nicht mehr die Rede ist, wahrscheinlich wurde er zur Adoption frei gegeben. Später wird sie von einem sehr viel jüngeren Mann, der etwa im Alter dieses Sohnes ist, ein weiteres Kind bekommen, ein Mädchen, das sie ebenfalls Fritzi nennt und das bei ihr bleibt. Am Anfang ist Jule Tänzerin und arbeitet am Theater, dann in irgendeinem Management, dann kehrt sie zurück ans Theater, als kaufmännische Geschäftsführerin und künstlerische Betriebsdirektorin. Da scheint Ruhe in ihr Leben eingekehrt.
Die Mutter stirbt, Böwe verlässt seine langjährige Geliebte, um sich gleich einer anderen zuzuwenden. Wenn man einen Sinn im Leben sucht, eine tiefere Bedeutung, dann wird man in diesem Roman eher verzweifeln. Hier geschieht alles einfach, ohne dass die Protagonisten sich groß darüber aufregen oder gar sich dagegen auflehnen. Was bleibt am Ende? fragt man sich. Nicht viel, denn da war ja auch schon am Anfang nichts: falsche Entscheidungen die nicht rückgängig gemacht wurden. Vielleicht ist das tatsächlich „normal“, aber es ist auch zutiefst deprimierend.
Brigitte Tietzel