TietzelsTipp: Zur See von Dörte Hansen

Das Leben auf der kleinen Nordseeinsel, die mit der Fähre etwa eine Stunde vom Festland entfernt liegt, war seit Jahrhunderten bestimmt vom harten und entbehrungsreichen Dasein der Menschen, die sich mit der See arrangieren mussten, die ihnen Nahrung und Tod brachte. Die Familie Sander, die seit ewigen Zeiten auf dieser Insel lebt, steht beispielhaft für die Umstellungen, mit denen sich die Inselbewohner in den letzten Jahrzehnten auseinandersetzen mussten. Da ist Hanne, die Mutter, die aus der Not, allein mit ihren Kindern zu Hause bleiben zu müssen, während der langen Monate, wenn ihr Mann Jens zu See fuhr, sich Sommerferiengäste ins Haus holte, als Gesellschaft und als Verdienstmöglichkeit.

Als Jens die Seefahrt aufgibt, zieht er sich als Vogelwart auf das Driftland zurück. Sein Haus und Heim und damit auch seine ganze Familie, war ihm durch die ständigen Sommergäste verleidet, die ihn sozusagen zu einem Störfaktor in diesem Touristengeschäft machten. Zwanzig Jahre nun schon lebt er als Einsiedler auf seiner Vogelinsel. Dabei hat Hanne inzwischen das Vermieten aufgegeben, denn die Welt hört nicht auf, sich zu verändern. Und was zu Beginn ein einträgliches Geschäft mit den Fremden war, die zur Erholung auf die Insel kamen und für diese Erholung auch dankbar waren, entwickelte sich nach und nach zu einem für alle Beteiligten eher unerfreulichen Unterfangen. Denn der sehr einfache Standard von Hannes Unterkunft konnte den immer höheren Ansprüchen der Gäste nicht mehr genügen. Dass nicht nur Jens, Hannes Mann, unter der jahrelangen „Hausbesetzung“ durch die Feriengäste gelitten hat, sondern auch die Kinder, wird nach und nach deutlich.

Der Älteste, Ryckmer, hat sein Kapitänspatent verloren, weil er ein unverbesserlicher Trinker ist und arbeitet jetzt als Deckmann auf der Fähre, der die Leinen des Schiffes los- und später wieder festmacht. Er ist ein gut und wild aussehender Mann, und die Menschen, die voller Erwartungen auf diese Insel kommen, sehen in ihm das Ideal eines Seemanns. Es ist ein ebenso falsches Bild wie das, das seine Mutter den Feriengästen vorgespielt hat. Die Tochter, Eske, arbeitet in einem Altenheim, ist über und über tätowiert, liebt Freya, die Tätowiererin, kann sich aber für diese Liebe nicht von der Insel trennen. Und Henrik, der Jüngste, lebt in seiner eigenen Welt, sammelt Treibgut am Strand, baut daraus Skulpturen, die bei den Zugereisten als Kunstwerke großen Anklang finden. Diese Wertschätzung geht allerdings völlig an Henrik vorbei. Auch Geld kann sein Leben nicht ändern. Die einzige dauerhafte Beziehung, die er eingeht, ist die zu seinem Hund. Weder Frauen noch die Familie spielen in seinem Leben eine Rolle. Wie in Dörte Hansens anderen Romanen folgt man ihrer Erzählung gern, aber die Schicksale sind nicht wirklich zwingend, und so bleibt das tiefere Mitgefühl für diese Lebensgeschichten im Grunde aus.

Brigitte Tietzel

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