„Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara

Anfang des Jahres habe ich eine Zeitschrift durchgeblättert, in der verschiedene Leute jeweils drei Bücher vorstellten, die sie im letzten Jahr gelesen hatten: ein Favorit, eine Überraschung und eine Enttäuschung. Zu dem Zeitpunkt hatte ich gerade erst angefangen „Ein wenig Leben“ zu lesen, war aber schon begeistert, weshalb es mich sehr irritierte, es in der Enttäuschungs-Sparte zu finden. Natürlich ist so etwas immer eine subjektive Meinung. Unsere Plattform hier möchte ich jetzt gerne dazu nutzen, meine eigene kundzutun – natürlich wie immer unbeauftragt und unbezahlt 😉

Zuallererst sollte gesagt sein, dass es sich bei dem Roman nicht gerade um leichte Lektüre handelt. Das liegt zum einen an der schieren Länge (960 Seiten liest man nicht mal eben so weg), aber vor allem an der Geschichte selbst. Als ich das Buch Mitte Dezember erhielt, wurde mir tatsächlich geraten, es nicht über die Feiertage zu lesen, da es die geruhsame, festliche Stimmung zerstören würde. Da ich etwas masochistisch veranlagt bin, begann ich es am Morgen des 24. Dezembers.

Ich tauchte ein in die Geschichte der College-Freunde Jude, Willem, Malcolm und JB, deren Leben die Autorin über mehrere Jahre hinweg beschreibt. Und ich wähle hier absichtlich das Wort ‚beschreiben‘, denn bis etwa zur Hälfte wirkt der Roman fast wie ein Bericht. Yanagihara nutzt die personale Erzählform und wechselt zu Beginn der Geschichte noch oft zwischen den vier Hauptcharakteren hin und her, während sie sich gegen Ende immer mehr auf einen, beziehungsweise zwei der Männer konzentriert. An zwei Punkten gibt es außerdem einen Einschub, der vom sonstigen Erzählstil abweicht. Es ist ein aus der Ich-Perspektive geschriebener, fast wie ein Brief verfasster Monolog eines fünften Mannes an einen der Hauptcharaktere.

Es ist vielleicht etwas verwirrend, dass ich keine Namen nenne, aber ich fürchte es könnte zu viel von der Handlung vorwegnehmen, darum hoffe ich ihr könnt euch damit arrangieren 🙂

Was man jedoch eindeutig sagen kann, und was gewissermaßen vom Klappentext auch schon vorweggenommen wird, ist, dass Jude die Hauptperson ist, um die sich alles dreht. Zwar werden auch die Leben seiner Freunde ausführlich beleuchtet, vor allem durch Erzählerwechsel in den Zeiten, in denen das Vierergespann etwas auseinanderdriftet, doch der Fokus liegt immer auf Jude, seiner Vergangenheit und wie sie seine Gegenwart bestimmt.

Das passiert zunächst unterschwellig, wird später aber immer offensichtlicher, vor allem wenn er beginnt annähernd romantische Beziehungen einzugehen und immer mehr über seine Vergangenheit ans Licht kommt.

Wahrscheinlich sollte einem das Cover eine Warnung sein; sollte man, sofern man kein Fan von traurigen Geschichten ist, lieber danebengreifen. Aber ich habe nicht erwartet, wie sehr es wehtun wird, dieses Buch zu lesen.

Vielleicht fragt ihr euch jetzt, wie einen eine Geschichte, die in großen Teilen – wie ich selbst eben noch geschrieben habe – „fast wie ein Bericht“ verfasst ist, einen so sehr berühren kann. Es ist schwierig zu erklären. Zum einen werden die Emotionen natürlich schon beschrieben, aber eher à la ‚er war traurig‘ als ‚er fühlte sich, als wäre ihm sein Herz entrissen worden und läge nun blutend vor ihm auf dem Boden“. Es ist schlicht. Die verschiedenen Hoch- und Tiefpunkte der Geschichte sind im Gegenzug so extrem und stehen in einem so großen Kontrast zueinander, dass man allein vor Schock mitfühlt.

Dazu kommt, dass man sich wahnsinnig gut in das Leben des jeweiligen Erzählers hineinfühlen kann, da die Gefühlsebene zwar kurz und beinahe sachlich gehalten wird, dafür aber die Umgebungen und Situationen umso detailreicher beschrieben werden. Manchmal fiel es mir schwer, nach längerer, dem Zeitmangel geschuldeter Lesepause das Buch wieder in die Hand zu nehmen, aber schon nach wenigen Absätzen war ich schon wieder völlig gefesselt und konnte mir nicht vorstellen es wieder wegzulegen bis ich nicht am Ende angekommen wäre.

Allerdings hatte ich auch bei jeder neuen Seite Angst, was als nächstes passieren würde. Meiner Meinung nach macht das ein gutes Buch aus: dass man sich um die Charaktere sorgt, auch wenn man manche davon vielleicht gar nicht unbedingt sympathisch oder ihr Verhalten nachvollziehbar findet.

„Ein wenig Leben“ hat diese Kraft, einen entgegen aller Hoffnungen hoffen zu lassen, nur um ihn dann wieder am Boden zu zerstören. Aber jeder dieser Zyklen endet wieder mit Hoffnung. Oder zumindest ging es mir so.

Es gibt Bücher und auch Filme, die mich zutiefst deprimieren, auch wenn sie gar nicht unbedingt so traurig sind, aber dieser Roman, der so traurig war, dass ich mehr geweint habe als bei irgendeinem anderen bisher (wobei „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ nur sehr knapp dahinter liegt :D), ließ mich trotzdem mit einem guten Gefühl zurück. Das klingt sicher komisch, aber vielleicht kann es der Eine oder Andere ja nachvollziehen.

Ich denke das liegt daran, dass trotz der harten Schicksalsschläge, die die Autorin für ihre Charaktere bereithält, immer jemand da ist, der ihnen Hoffnung gibt und ihnen helfen möchte. Ob nun Familie, Freunde oder völlig Fremde – sie sind nie ganz alleine, haben immer jemanden, der ihnen zur Seite steht. Und ich denke auch, dass die Geschichte deshalb so viele Leute berührt hat.

Vor kurzem habe ich zufällig entdeckt, dass es hier eine offizielle Instagram-Seite gibt, auf der Kunstwerke (#alittlelifebookart) geteilt werden, jeden Freitag ein sogenanntes Bookface mit dem Cover des Buches, Fotos von Menschen, die Handlungsorte besuchen (#visitinglispenardst) oder selbst gestaltetes Merchandise tragen (#allbookswag). Es ist schön zu sehen, wie groß dort die Community ist.

Mir ist klar, dass der Roman nicht für jeden etwas ist, aber mir hat er wahnsinnig gut gefallen und ich würde mich freuen, wenn diese Rezension vielleicht noch mehr Menschen dazu bringen würde, ihn zu lesen.

Bis bald,
eure Chiara 🙂

2 Gedanken zu „„Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara

  1. Es stimmt was du sagst, es tat weh das Buch zu lesen. Es ist eines meiner Lieblingsbücher, trotzdem habe ich es nur einmal gelesen. Ich würde es nicht schaffen, es nochmal zu lesen.

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