TietzelsTipp: Hast du uns endlich gefunden von Edgar Selge

Ein merkwürdiger Titel, den ich, ehrlich gesagt, nicht verstanden habe. Der Autor erzählt aus seinem Leben, also müsste man das Buch als Autobiographie bezeichnen. Oft wundere ich mich, mit welcher Ausführlichkeit sich manche Menschen an viele Einzelheiten ihres Lebens zu erinnern scheinen. Hier ist das anders. Hier geht es nicht um den Ablauf der Ereignisse. Selge beschreibt, wie er als Zwölfjähriger sein Elternhaus wahrgenommen hat und zeichnet dabei einzelne Episoden, an die er sich besonders erinnert. Man schreibt das Jahr 1960. Der Vater ist Gefängnisdirektor in Herford, und Musik bedeutet ihm alles. Er geht so weit, Strafgefangene, für die er verantwortlich ist, bisweilen an den Hauskonzerten der Familie teilhaben zu lassen.

Der junge Edgar beobachtet mit großer Klarheit, was um ihn herum geschieht. Er sieht die Schwächen und Fehler vor allem seines Vaters aber auch der Mutter. Und dennoch liebt er die Eltern. Die Atmosphäre im elterlichen Haus ist bedrückend, die älteren Brüder reagieren ablehnend auf die nationalsozialistischen Neigungen und die Judenfeindlichkeit der Eltern, und auch Edgar ist darüber entsetzt, kann sich aber nicht wie die Älteren zur Wehr setzen. Er muss ungeheuer unter der scheinbaren Lieblosigkeit des Vaters gelitten haben, der unbarmherzig die Schwächen des Kindes strafte und den Jungen immer wieder verprügelte. Auch eine leichte sexuelle Aggression wird angedeutet. Ergreifend ist die Szene in der Edgar seinen Vater im Gespräch dazu verlockt, über den eigenen Vater zu sprechen, der ihn niemals geschlagen habe. Die konsequente Nachfrage, warum der Vater ihn, Edgar, so viel schlüge, traut er sich dann nicht zu stellen.

Die Verlorenheit des Jungen findet ihren Ausdruck in einer nach außen hin als Bockigkeit erscheinenden Haltung. Edgar lügt und stiehlt, um Dinge zu tun oder zu erlangen, die er gerne möchte, aber nicht bekommen würde. Er hat dabei ein Unrechtsbewusstsein und große Angst vor der Strafe, die unmittelbar nach Entdeckung erfolgen wird. Und trotzdem tut er es immer wieder. Er fühlt sich in dieser Familie vernachlässigt, zumindest nicht besonders geschätzt, schon gar nicht unterstützt, und wenn er so gegen alle Erwartungen der Eltern handelt, dann ist das letztlich ein Zeugnis für die Festigkeit seines Charakters. Schon das Kind erkennt er seine Besonderheiten und Schwächen und versucht trotz allem seinen eigenen Weg zu gehen.

Im Anhang an die Geschichte seiner Kindheit berichtet der Autor über den Tod seines jüngeren Bruders Andreas. Als der schon im Sterben lag, wollte Edgar für ihn da sein, ihn retten und hat dabei doch Dinge getan, die dem Bruder letztlich eher geschadet haben. Das wird deutlich an der unterschiedlichen Haltung seines älteren Bruders Werner. Selges Aufrichtigkeit in allem, was er über sich zu lesen gibt, hat mich ziemlich erschüttert.

Brigitte Tietzel

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