Miroslav Penkov, Wenn Giraffen fliegen
Was wissen wir über Bulgarien? Ich habe noch nicht einmal eine ganz genaue Vorstellung davon, wo es eigentlich liegt. Der Autor, Bulgare, der ein kleiner Junge war, als der eiserne Vorhang fiel, wanderte mit 18 Jahren nach Amerika aus. Bestätigt das nicht die vagen Vorurteile, die man über dieses unbekannte, fremde Land hegt? Da hat jemand aus guten Gründen das Weite gesucht, so will es scheinen. Penkov erhielt mit 25 Jahren in Amerika seinen ersten Literaturpreis und war noch keine 30, als er bereits Professor wurde. Heute lehrt er Englisch an der University of Texas. Und er schreibt auf Englisch.
Aber er schreibt über seine Heimat, er schreibt über Bulgarien, über die Menschen dort, von denen er einer ist und bleiben wird, auch in der neuen Welt. Er schreibt mit einer solchen Intensität und Liebe zu den Menschen, mit so viel Einfühlsamkeit und Verständnis und gleichzeitig mit so gnadenloser Offenheit und Direktheit, dass es einem dass Herz zerreißen möchte.
Acht Geschichten finden sich in dem Buch, aber man liest sie wie die verschiedenen Kapitel eines Romans, so sehr hängen sie zusammen in der Besonderheit, die die Menschen ausmacht. Nichts ist geschönt in diesen Geschichten, keine geht gut aus, ja viele haben nicht einmal ein richtiges Ende. Denn in Wahrheit beschreibt der Autor keine Geschichten, er beschreibt das Leben. Er fängt irgendwo an und hört wieder auf, während seine Figuren immer so weiter machen. Vielleicht wird dadurch dieser Eindruck von Homogenität erreicht. Vieles, was man da liest, macht tieftraurig: der alte Mann, der auf uralte Liebenbriefe, die seine Frau von einem andern erhalten hat, eifersüchtig ist, weil er sich ausmalt, wie das Leben seiner Frau mit diesem anderen hätte sein können. Oder die Geschichte eines Dorfes, das der Krieg auseinander gerissen hat und das durch den Fluss in eine bulgarische und eine serbische Seite geteilt wird. Ein Mann hängt der vergeblichen Liebe zu seiner Cousine am anderen Ufer an, die nicht in Erfüllung gehen kann. Als er das begreift, ist er endlich frei von allen Schatten der Vergangenheit. Das scheint mir typisch für alle Geschichten zu sein: was immer auch Schreckliches oder Absurdes passiert, die Menschen überstehen es. Keiner fällt in einen Abgrund, aus dem er nicht mehr herauskommt. Das zeugt von einer Stärke und Lebenskraft, die einen erschüttern kann. Daneben gibt es so kuriose Typen wie den Großvater, der lange nach dem Fall des Kommunismus und bis an die Grenzen des Aberwitzes an den alten Lehren festhält. Oder die Jungen, die eine Kirche ausrauben und dabei auf einen Leichnam stoßen, der plötzlich anfängt zu seufzen.
Ein Buch, das solche Menschen beschreibt, habe ich noch nicht gelesen. Und doch: ich meine, sie alle zu kennen. Das heißt nicht, dass man wirklich verstehen würde, warum sie sich so verhalten wie sie es tun, oder gar, dass man selber so handeln würde. Aber man kann es nachvollziehen. Penkov schleudert einem mit seinen Geschichten die ganze Bandbreite menschlicher Tragödien und Komödien entgegen. Und man ist bereit, das anzunehmen. Ein unbedingt lesenswertes Buch.