Edgar Hilsenrath – Der Nazi und der Friseur

Zuerst habe ich gedacht: wie schrecklich! Dieses Buch beginnt so abstoßend, das kann ich nur schwer aushalten und nicht weiterlesen.

Aber irgendwie war ich doch auch so gebannt, dass ich nicht aufhören konnte. Und so habe ich es natürlich zu Ende gelesen. Erstens, weil mich das Thema grundsätzlich interessiert, aber auch, weil die Geschichte so angelegt ist, dass sie mich in den Bann gezogen hat.

Worum geht es also? Max Schulz und Itzig Finkelstein werden am gleichen Tag des Jahres 1907 in der gleichen Straße geboren. Max als uneheliches Kind dreier möglicher Väter und einer Dienstmagd, Itzig als Sohn eines renommierten jüdischen Friseurmeisters und dessen Ehefrau. Der eine eher am Rande der Gesellschaft, der andere also in gesicherten Verhältnissen.

Beide wachsen trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft als beste Freunde auf, gehen gemeinsam zur Schule und verbringen viel Freizeit miteinander. Max lernt als Nichtjude somit das jüdische Familienleben in und auswendig kennen. Er genießt auch die Vorzüge des stabilen Umfeldes der Finkelsteins und absolviert schließlich sogar seine Friseurlehre nicht im heruntergekommenen Friseurgeschäft seines Stiefvaters, sondern im Salon von Itzigs Vater.

So weit so gut, wobei die schockierenden Ausführungen über den sexuellen Missbrauch und die Gewalt, die Max durch seinen Stiefvater erfährt, mir sehr unerträglich waren.

Nun kommen also die Nazis an die Macht und Max schließt sich ihnen an, arrangiert sich auch mit den Judenhass-Parolen, vollführt also eine 180-Grad-Wende in seinem Leben und legt im Rahmen seiner Möglichkeiten eine Karriere im NS-Staat hin. Er landet als Angehöriger der SS als Aufseher in einem Konzentrationslager und wird dort der Familie Finkelstein begegnen und an deren Ermordung beteiligt sein.

Bei Kriegsende überlebt er nur knapp beim Truppen-Rückzug als einer von zwei SS-Angehörigen in den polnischen Wäldern einen gegnerischen Angriff und rettet sich zu einer alten Frau in eine kleine Kate. Dort wartet er die Kampfhandlungen der letzten Kriegsmonate ab und kehrt schließlich, nachdem er auch diese Frau ermordet hat, nach Deutschland zurück. Um im Nachkriegsdeutschland der Strafverfolgung zu entgehen, nimmt er die Identität des ermordeten Itzig an, wandert schließlich nach Israel aus. In seinen Augen wertet Max es so: „Ich war kein Antisemit. Ich bin nie einer gewesen. Ich habe bloß mitgemacht.“ Die Schuldfrage verfolgt ihn dennoch bis an sein Lebensende.

Dies ist ein besonderes und wirklich großes Buch!

Hier wird mit dem Thema Holocaust auf eine bitterböse, satirische Weise umgegangen, die deshalb so schwer erträglich ist, weil es eben keine klare Schuldzuweisung gibt. Genauso wenig gibt es am Ende eine tatsächliche Läuterung. Und genau das lässt diesen Titel so nachhaltig wirken: man stellt sich unweigerlich die Frage nach der eigenen Fähigkeit Schuld auf sich zu laden.

Edgar Hilsenrath, selber Überlebender des Holocaust, hat dieses Buch bereits 1975 in deutscher Sprache verfasst und ins Englische übersetzt in New York veröffentlicht. Zu einem Zeitpunkt, als ein derartiger Umgang mit dem Thema in der Bundesrepublik Deutschland noch gänzlich tabu war. Deshalb wollte auch zunächst kein deutscher Verlag diesen Titel veröffentlichen. Erst zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung erschien der Titel dann endlich auch in Deutschland, in dem kleinen Kölner Verlag Helmut Braun.

Von mir gibt es hierfür eine unbedingte Leseempfehlung!

Eure Bettina

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