TietzelsTipp: Motherless Brooklyn von Jonathan Lethem

Das ist, oberflächlich gesprochen, ein Krimi und doch viel mehr. Es geht um den Kleinganoven Frank Minna und sein Umfeld in den 70er Jahren. Minna holt sich aus dem St. Vincent Waisenhaus in Brooklyn immer mal wieder vier Jungen, die für ihn gewissen Arbeiten ausführen sollen, wie zum Beispiel Waren aus einem Lastwagen in eine Halle umräumen. Aus diesen Jungen werden junge Männer, die schließlich, als sie das Waisenhaus verlassen, völlig auf diesen Arbeitgeber fixiert sind und sich sozusagen als „Minna Men“ verstehen. Sie erledigen für Minna tausend Sachen, haben einen Fahrdienst und ein Detektei-Büro, aber es bleibt unklar, und scheinbar auch den Männern selbst, was da eigentlich so alles abläuft, denn Frank Minna ist ebenso diskret wie beliebt in dieser Brooklyner „Unterwelt“, die einen bis auf die störende Tatsache von einigen Morden geradezu anheimelt.

Zumindest für einen der Minna Men, für den Ich-Erzähler, Lionel Essrog, aus dessen Perspektive der Leser die Geschichte verfolgt, ist Minna auch Vaterfigur, der Mann, dem er sozusagen sein Leben verdankt, der ihn aus dem Waisenhaus gerettet hat. Schon im ersten Kapitel wird Frank Minna ermordet, und die folgende Geschichte beschreibt die Bemühungen von Lionel, den Mörder seines Chefs zu finden. Das ist das eine. Aber Lionel hat das Tourette-Syndrom, eine Krankheit, die bewirkt, dass überschüssige innere Energie ihn dazu bringt, unkontrollierte Bewegungen zu machen und Dinge auszusprechen, die besser nicht gesagt würden. Dazu verspürt er einen oftmals nicht zu beherrschenden Drang, Menschen oder Dinge zu berühren und bestimmte Sätze in lautmalerischer Verdrehung vielfach zu wiederholen. Das ist das andere.

Und diese beiden Geschichten sind auf intelligente, spannende, heitere, bisweilen urkomische Weise verflochten. Es bleibt nicht aus, dass Lionel eine Sonderrolle spielt mit seiner Krankheit. Schon Minna hatte ihn durchaus liebevoll als Freak und Freakshow bezeichnet, und alle anderen halten ihn wegen seiner Krankheit für verrückt. Sie akzeptieren sein verrücktes Anderssein, aber sie machen den Fehler, ihn  deswegen tatsächlich für dumm, für unintelligent zu halten. Aber das ist er ganz und gar nicht. Er ist derjenige, der trotz seiner  vorherigen vertrauensvollen Naivität im Augenblick von Minnas Tod den klarsten Durchblick hat. Frank Minna hat das wohl gewusst und auch, dass Lionel derjenige unter seinen Männern ist, dem er am meisten vertrauen kann.

Lionels Krankheit, die ihn so offenkundig mit allen Menschen aneinander geraten, ihn in jeder Minute auffällig werden lässt, ist doch gerade deswegen auch sein Schutz, eben weil ihn nicht jeder so ernst nimmt, wie er es sollte. Die eigentlichen Bösewichter und schließlich auch der Mörder, nach dem er gefahndet hat, hält das natürlich nicht davon ab, ihn zu durchschauen, zu benutzen, zu bedrohen. Der Leser aber zweifelt keinen Augenblick an Lionel.

Ein ungewöhnliches Buch ist das, von unglaublichem Sprachwitz und sehr lehrreich, was die Beurteilung von Menschen betrifft, die nicht sind wie wir.

Brigitte Tietzel

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