TietzelsTipp: Über Meereshöhe von Francesca Melandri

Ein Mann und eine Frau treffen auf einer Gefängnisinsel im Mittelmeer aufeinander. Beide haben eine Besuchserlaubnis für den Hochsicherheitstrakt, in dem Terroristen oder besonders gefährliche Verbrecher untergebracht sind. Widrige Umstände und ein aufkommender Sturm lassen sie die Fähre zurück auf die Hauptinsel verpassen, sodass sie eine Nacht auf der Insel bleiben müssen.

Die beiden, die sich nicht kennen und die aus sehr verschiedenen Welten kommen, haben doch etwas gemeinsam. Schon seit Jahren reisen sie den Menschen, die sie auch hier besuchen, in den verschiedensten Gefängnissen hinterher. Der Umgang mit den jeweiligen Institutionen und vor allem mit denjenigen, die dort die Macht ausüben, haben Sie Demut gelehrt und eine gewisse vorsichtige Zurückhaltung.

Der Mann, ein ehemaliger Geschichtslehrer, besucht seinen Sohn, den einzigen, den geliebten, der in aller Kaltschnäuzigkeit vom Recht der Revolution schwafelt, Menschen umzubringen. Und das hat er getan. Er ist ein Mörder, ohne jegliche Reue. Seine Mutter ist aus Entsetzen darüber verstorben. Und obwohl der Vater ebenfalls schier verzweifeln möchte, nicht nur über die Taten seines Sohnes als solche, sonder auch über dessen Selbstgerechtigkeit und Uneinsichtigkeit in die Schwere seiner Taten, ist er doch aus immer währender Liebe zu diesem Sohn bereit, ihn auch weiterhin nicht fallen zu lassen und besucht ihn, so oft er kann.

Die Frau sucht ihren Mann auf. Der hat in zunehmender Unbeherrschtheit nicht nur sie geschlagen, sondern schließlich einen Mann im Streit getötet und dann noch einmal einen Gefängniswärter. Deswegen jetzt dieses besondere Gefängnis. Sie ist Bäuerin, hat Kühe und andere Tiere zu versorgen und ihre fünf Kinder. Sie ist es gewöhnt, das Leben zu akzeptieren, und so erfüllt sie in all den Jahren ohne ihren Mann einfach ihre Pflicht, ist froh, dass es ihr gelingt, die Kinder zu ernähren und ist glücklich darüber, ohne Angst in ihrem Bett liegen zu können. Aber zu ihren Pflichten gehören auch die Besuche im Gefängnis.

Dieser Mann und diese Frau, die so wenig gemeinsam haben und doch so viel, kommen sich auf eine wunderbare Weise näher in dieser besonderen Situation. Melandri zeichnet mit einer geradezu poetischen Sprache die Insel, das Meer, den Himmel. Die Sprache und die Haltung der Personen sind dagegen klar und unsentimental. Die Begegnung führt zwangsläufig zu einer unerhörten, sehr tröstlichen Nähe für beide. Sie werden sich nach den zwei Tage nicht mehr wiedersehen, wohl noch einmal am Telefon sprechen, als sie erfahren, dass das Gefängnis durch eine Explosion zerstört wurde und die Gefangenen an unterschiedliche Orte gebracht werden. Was sie sich in dieser Nacht an menschlicher Zuneigung gegeben haben, wird nachwirken. Ein sehr tröstlicher Schluss und ein unglaublich lesenswertes Buch.

Brigitte Tietzel

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