Es geht um das Leben des Dada-Künstlers Kurt Schwitters, aber das Buch ist nicht wirklich eine Biographie. Nicht nur, weil die Geschichte erst in den 30er Jahren, kurz vor der Auswanderung des Künstlers 1937 nach Norwegen beginnt. Er ist aber bereits 1887 geboren, und seine wichtigste künstlerische Zeit liegt da bereits hinter ihm, sondern auch, weil man dieses Buch, das sich für den Rest von Schwitters Leben durchaus an die Fakten hält, als Roman bezeichnen muss. Denn die Autorin wagt es, den Leser mit den Gedanken und Empfindungen des Mannes zu konfrontieren. Und das gelingt ihr ganz erstaunlich gut und eindrucksvoll. Die Sprache nämlich ist genau so zerfleddert, dadaistisch, voller Phantasie, Wortspielereien, wie man sich vorstellen kann, dass sie genau so in Schwitters Kopf herumschwirrte. Vor allem am Anfang des Buches, als Schwitters damit hadert, von den Nazis als entarteter Künstler geächtet und beobachtet zu werden und der Einsicht, die seine Frau Helma versucht, ihm dringend zu vermitteln, dass er so schnell wie möglich raus muss aus diesem Land.
Aber das ist sein Land, seine Stadt Hannover, sein Haus, das schon den Eltern gehörte und in dem er gerade seinen MERZ-Bau gestaltet hat. Sein Werk, sein Kind, sein Leben. Das er einfach nicht verlassen kann. Noch selten habe ich so eindrücklich gespürt und begriffen, was es für einen Menschen bedeutet haben muss, sein Land wegen einer drohenden Lebensgefahr verlassen zu müssen. Er geht dann tatsächlich, zunächst nach Norwegen, wo sein Sohn Ernst mit seiner norwegischen Frau lebt, und als die Deutschen 1940 in Norwegen einfallen, fliehen alle drei nach England, wo die Männer zunächst auf der Insel Man interniert werden und schließlich nach London gehen können. Während Ernst nach dem Krieg zurück nach Norwegen zieht, versucht Kurt sich in seinem neuen englischen Leben zurecht zu finden. Das gelingt ihm mit Hilfe einer jungen Frau, Edith Thomas, genannt Wantee, mit der er nach Ambleside im Lake District übersiedelt. Die Liebe zwischen der kaum 30jährigen Wantee und dem ehemals „feindlichen“ deutschen, etwas spleenigen, sehr viel älteren Künstler können die Engländer irgendwie akzeptieren. Nicht aber der Sohn, Ernst, der nach dem Tod des Vaters im Januar 1948, eine langjährige Erbstreitigkeit mit Wantee beginnt. Er leugnet die Bedeutung der Frau für seinen Vater, übersieht den Antrag des Vaters auf Erhalt der englischen Staatsbürgerschaft, deren Bewilligung ihn einen Tag vor seinem Tod erreicht.
Sein letztes Werk, eine MERZ-Wand in einer Scheune wird viele Jahre später in die Hatton Gallery in Newcastle verbracht. Draesner macht sehr anschaulich, dass auch die englische Sprache Schwitters ein Halt war, weil sie ihm im Vergleich mit der deutschen die Möglichkeit zum spielerischen Austausch von Bedeutungen und deren Erweiterungen bot. So konnte er wohl trotz allem den Verlust seiner Vergangenheit überwinden.
Brigitte Tietzel