Von den Samen und Lappen im Norden Skandinaviens hat man gehört, und auch sie sind mit den Rentieren tief verbunden. Aber die Nenzen? Sie leben im hohen Norden der russischen Tundra, weit ab von der Welt und führen wohl noch heute dieses völlig von der Natur abhängige, archaische Nomadenleben, dessen Glück und Reichtum an den Besitz der Rentiere gebunden ist. In diese abgeschlossene Welt hat „der Sowjet“ eingegriffen, positiv einerseits, weil der Handel mit Rentierfellen und Fleisch so leichter wurde und auch, weil man die Kinder in (allerdings abgelegene) Schulen brachte, und negativ, weil keiner dieser Fremden die Gewohnheiten, den Lebenssinn, die Traditionen der Nenzen verstand und dadurch viel Unheil über sie gebracht wurde, etwa wenn man die Nomaden zwang, ein Soll für die Kolchose zu erbringen, ohne Rücksicht auf reale Möglichkeiten und wirtschaftliche Zusammenhänge.
Auch die Autorin ist mit sechs Jahren von ihren Eltern getrennt worden, um in einem Internat eine schulische Ausbildung zu erhalten. Viel später ist sie zum Nomadenleben zurückgekehrt und hat eine eigene Schule für die Kinder der Nenzen eingerichtet. Wenige der Kinder, die ihrem ursprünglichen Leben entfremdet wurden, sind aber tatsächlich zurückgekommen.
In diesem Roman nun werden verschiedene Lebensgeschichten erzählt, die alle mit diesem Konflikt zu tun haben, dass die Jungen die Alten verlassen. Sie verlieren das Gefühl für die Verantwortung, wie sie innerhalb der nomadischen Gesellschaft unverzichtbar ist, wo einer für den anderen einstehen muss, insbesondere im Kreislauf von Geburt und Tod innerhalb einer Familie. Allen voran erfahren wir die Geschichte von Aljoschka. Er ist schon 26 Jahre alt und seine Mutter, seit langem Witwe, kauft ihm eine Frau. Denn das Leben muss weitergehen. Sie wird langsam alt und möchte sich an Enkeln erfreuen und die Aufgabe, das Feuer in ihrem Tschum (Zelt) zu entfachen, einer Schwiegertochter übergeben. Herrin des Tschums ist immer die Frau. Alles andere liegt in den Händen des Mannes. Aljoschka aber verweigert sich dieser Hochzeit, die er gleichwohl eingehen muss, denn er liebt Ilne, die Tochter des alten Petko. Ilne ist aber vor sieben Jahren weggegangen und sie wird auch nicht wiederkommen.
Auch alle anderen Geschichten handeln von dem Gegensatz zwischen dem Leben der Nomaden, das an unerschütterliche Grundsätze gebunden ist, denn sonst wäre ein Überleben in der unwirtlichen Umgebung gar nicht möglich, und dem Streben der jungen Generation nach individuellem Glück.
Die Fotos von Sebastiao Salgado, die dem Roman vorangestellt sind, zeigen eine für unsere Augen nahezu unwirkliche Welt.
Brigitte Tietzel