In diesem Jahr jährt sich der Todestag von Eduard, Graf von Keyserling, einem eher mittelmäßigen Schreiber vom Ende des 19. Jahrhunderts, zum hundertsten Mal, und das mag das neuerliche Interesse an dem ansonsten lange Vergessenen erklären. Wenn man Klaus Modicks Roman liest, könnte man sich allerdings fragen, ob solches Wiederaufleben tatsächlich gerechtfertigt ist. Keyserling, geistreich und gebildet zwar, aber gefangen in den Fesseln seiner Triebe, ist mir herzlich unsympathisch. Da er keinem Weiberrock ausweicht, kommt es, wie es in der damaligen Zeit sehr häufig kam, er wird von der Syphilis zerstört und scheint schon mit Mitte 40 ein lebender Leichnam. Seine Spielsucht, die in seiner Jugend zu ziemlichen Übertreibungen führte, scheint er dagegen im Alter in den Griff bekommen zu haben, immerhin.
Die Sprünge in Zeit und Ort machen Modicks Roman am Anfang etwas unübersichtlich. Die etwas langatmige Beschreibung der Gesellschaft von Malern und Schriftstellern, in der sich Keyserling in München bewegt, erfordert vom Leser reichlich Geduld, geht es dabei doch weitgehend um Alkohol und geschwätzige Männerkommentare zu Frauen aller Art. Auch der Rückblick auf weitere Amouren in einem Wiener Intermezzo Keyserlings, wirkt etwas bemüht. Der Wiener Aufenthalt liegt zwischen seiner ersten Flucht von zu Hause und einer neuerlichen Heimkehr aus Pflichtbewusstsein, zu dem ihn seine Mutter drängt, weil der eigentlich das Gut verwaltende ältere Bruder seine kränkliche Frau zur Genesung in den Süden begleiten muss. Als er dem Baltikum endgültig den Rücken zukehrt, um fortan in München zu leben, nimmt der Roman seinen Anfang, und es folgen die zunächst verwirrenden Rückblenden auf sein Leben.
Aber dann endlich wird die Geschichte von Keyserlings Geheimnis ausgebreitet, und das ist wirklich großartig und spannend erzählt. Natürlich handelt es sich um einen Frauengeschichte und wenn man auch zunächst in die Irre geführt wird, weil diese anfänglich so banal daher kommt, merkt man doch bald, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zunächst scheinen. Auch der Auslöser für Keyserlings Erinnerungen an die Affäre hat es in sich, und man ist am Ende mit dem ganzen leidigen Mann und seinen komplizierten Lebensumständen mehr als versöhnt.
Der Blick auf das Leben des baltischen Adels am Ende des 19. Jahrhunderts lässt einen aber kalt. Das ist eine Welt, in der es Herren und Diener gibt, Vorurteile und Borniertheit, deren Untergang man nicht zu bedauern braucht.
Modicks Sprache ist geistreich und voller Ironie. Sie trifft den Ton der Zeit sehr genau und charakterisiert die jeweiligen Gesellschaften wunderbar. Trotz allem also: schön zu lesen.
Brigitte Tietzel
Klaus Modik, lange Zeit von der Literaturkritik eher links liegen gelassen, hat in diesem Roman meines Erachtens einen Höhepunktes seines wunderbaren Schreibens erreicht. Diese Qualität ist wohl auch der Grund dafür, dass der Vorgängerroman „Konzert ohne Dichter“ ein Bestseller geworden ist. Absolute Lesetipps sind auch „Der kretische Gast“, „Der Mann im Mast“ oder „Das Grau der Kaolinen“. Verschwiegen werden sollte aber nicht, dass Modik auch Seichteres geschrieben hat („Ins Blaue“, „Septembersong“), aber alles in allem schreibt Modik vielschichtig, geprägt von komplexen Motivverarbeitungen und literarischen Anspielungen, aber immer zugänglich und gut zu lesen. Für mich ist Modik zu einem großen Erzähler der Bundesrepublik geworden.