TietzelsTipp: Robinsons Tochter von Jane Gardam

Als Polly Flint sechs Jahre alt ist, bringt ihr Vater sie in das Gelbe Haus am Meer zu ihren ältlichen Tanten, wo sie von nun an leben wird. Man schreibt das Jahr 1904. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, und der Vater, ein Seemann, stirbt zwei Monate nachdem er seine Tochter bei den Tanten abgegeben hat. In dem Haus leben außer den Tanten noch die verbiesterte Mrs. Woods und das Hausmädchen. Polly wird nicht zur Schule gehen, sondern von Mrs. Woods in Deutsch und Französisch und vielleicht noch ein bisschen in Englisch und Allgemeinbildung unterrichtet. In der Bibliothek des Gelben Hauses, die noch von ihrem verstorbenen Großvater stammt, findet Polly genügend Lesestoff, um sich über ihr Alleinsein, ihre Einsamkeit hinweg zu trösten. Vor allem Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe hat es ihr angetan, denn dieser Robinson, der ebenfalls auf seiner einsamen Insel sein Leben unter den ungewöhnlichsten Umständen meistern muss, ist ihr großes Vorbild.

Der vorliegende Roman erzählt in großen Schritten Pollys Leben, beschreibt ihre Fähigkeit, zu beobachten und nur dadurch viel über die Welt und die Menschen zu lernen, obwohl ihr Lebenskreis ungeheuer eingeschränkt ist in dieser Frauengesellschaft.

Als Aunt Frances, die Sanftmütige, die, die Polly am nächsten steht, heiratet und das Haus verlässt, bricht diese enge heile Welt zusammen. Aunt Mary geht ins Kloster und Mrs. Woods wird ernsthaft krank. Mr. Thwaite, dessen Verbindung zu ihren Tanten Polly lange unklar ist, holt sie in sein Landhaus, in dem seine Schwester einen Salon für Künstler und Literaten unterhält, die allesamt so schräg und skurril sind, dass Polly einen Augenblick überlegt, ob dieses Haus nicht tatsächlich eine Irrenanstalt ist. Jane Gardam kann wunderbar erzählen, und insbesondere die Beschreibungen dieser Gesellschaft, die man nicht anders als „very British“ bezeichnen kann, sind bisweilen sehr komisch.

Erstaunlich ist Pollys Gradlinigkeit, die ihr trotz ihrer mangelnden Erfahrung in nahezu allen Dingen, hilft, Situationen und Menschen richtig einzuschätzen. Die unerfüllte Liebe zu Theo, einem Juden mit deutschen Wurzeln, dessen Familie nach dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrt, und der eine andere heiratet, wirft sie schließlich ziemlich aus der Bahn, obwohl sie sich bei allem nicht aus dem Gelben Haus wegrührt. Aber sie fängt an zu trinken und verlottert. Bis Alice, ihr Hausmädchen, aber viel mehr als das, ihre Retterin, Polly einen Weg weist, wie sie aus ihrer selbstgemachten Isolation wieder in die Welt zurückkehren kann. Das alles ist ergreifend erzählt, und doch am Ende mit all den komplizierten Verwandtschaftsverhältnissen, die dann plötzlich eine Rolle spielen, ziemlich überfrachtet. Ein klarer, einleuchtender Schluss, vielleicht sogar traurigerweise mit Pollys Untergang, wäre meiner Meinung nach plausibler gewesen als die ein bisschen an den Haaren herbeigeführte Lösung, die so ziemlich alle Probleme wegwischt.

Brigitte Tietzel

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