Michela Murgia, Accabadora
Sardinien ist eine archaische Insel, immer noch. Man erkennt es am sardischen Dialekt, den auch Italiener nicht ohne weiteres verstehen, an den Legenden, an den Nuraghen, fensterlosen, steinernen Türmen aus einer Zeit von vor 3000 Jahren, deren Bedeutung noch immer nicht gesichert ist.
Zwei eigentümliche sardische Bräuche spielen in diesem Buch eine Rolle. Ob es die Accabadora tatsächlich gegeben hat – man behauptet, die letzte ihrer Art habe noch in den 50er Jahren auf Sardinien gewirkt –, oder ob sie lediglich in den Legenden auftaucht, ist vielleicht nicht mehr zu klären. Heute würde man das, was diese Frauen taten, als Sterbehilfe bezeichnen. Wenn jemand dem Tode ganz nahe und nicht mehr zu retten war, wenn er selber sterben wollte und die Familie damit einverstanden war, dann schickte man nach der Accabadora, die den Armen erlöste. Das wurde als human, als letzte menschliche Fürsorge angesehen, und niemand hatte dabei Schuldgefühle. Gleichwohl war dies eine Angelegenheit der Nacht.
Der zweite Brauch sind die „fillus de anima“, Kinder der Seele, wie es wörtlich übersetzt heißen würde, im Buch aber sehr treffend „Kinder des Herzens“ genannt. Tzia Bonaria nimmt die sechsjährige Maria Listru als eine solche Tochter des Herzens in ihr Haus. Bonaria ist um die sechzig, sie ist einigermaßen wohlhabend, nicht verheiratet und hat keine Kinder. Die Mutter Marias dagegen hat schon drei fast erwachsene Töchter, als sie den Nachzügler erwartet. Sie ist bettelarm, und ihr Mann stirbt noch bevor dieses ungewollte, ungeliebte, unnötige Kind zur Welt kommt. Ein Abkommen auf Gegenseitigkeit, dessen Rechte und Pflichten klar waren und keine behördliche Bestätigung brauchten.
Die Geschichte der Annäherung bis hin zur Liebe zwischen der spröden Bonaria und dem Kind, das im Haus der Alten zum ersten Mal die eigene Bedeutung für einen anderen Menschen spürt, ist anrührend. Dabei hegt Maria nicht etwa Groll gegen die leibliche Mutter, die sie so sang- und klanglos weggeben hat. Die Verbindung zur Familie bleibt bestehen.
Tzia Bonaria verdient tagsüber ihr Geld als Schneiderin, und nur selten wird sie nachts gerufen. Ihre nächtliche Tätigkeit ist nicht gänzlich ohne Konflikte. So wird sie eines Tages zu einem alten Mann gerufen, der, obwohl krank, noch nicht im Sterben liegt und auch nicht sterben möchte. Bonaria verflucht die Familie, die sie an sein Bett gerufen hat. Eines Tages jedoch erliegt sie wider besseres Wissen der Versuchung, einem jungen Mann, der ein Bein verloren hat und als Krüppel nicht weiterleben möchte, diesen Wunsch zu erfüllen. Erst jetzt erfährt Maria, dass Bonaria eine Acccabadora ist. Sie verurteilt die Tötung als Mord und verlässt Sardinien, um als Kindermädchen in Turin zu arbeiten. Als Bonaria einen Schlaganfall bekommt, kehrt Maria als Tochter des Herzens zurück, um ihre Pflicht an der Mutter zu erfüllen. Diese kann nicht mehr sprechen, leidet große Schmerzen, aber sie stirbt nicht. Es ist klar, was sie von Maria erwartet. Diese schreckt vor der Ungeheuerlichkeit zurück und begreift doch, dass ihr „Niemals!“ grausamer ist als die Tat, die die Mutter von ihr verlangt. Was ist richtig? Das Buch lässt den Leser sehr nachdenklich mit dieser Frage zurück.
Das Buch kannte ich nicht. Habe aber aus großem Interesse den Roman online vorgemerkt 😉
Spannende Geschichte! Muss ich hier einfach mal empfehlen.