Elif Shafak: Ehre
Widersprüchliche Gefühle haben mich das ganze Buch hindurch begleitet. Da waren auf der einen Seite Wut und Unverständnis gegenüber einer Welt, die festgefahren ist zwischen den engen Grenzen dessen, was man als gut und was als böse ansieht. Da war Zorn auf Frauen, die sich widerstandslos in eine Welt fügen, die sie zu Menschen zweiter Klasse degradiert, Menschen, die keine Ehre haben, nur Scham und die also als einzige Schande bringen können. Obwohl es praktisch immer die Männer sind, die durch ihr Verhalten Unglück über die anderen und sich selber bringen.
Aber da war auch Mitgefühl und Mitleid, nicht nur mit den Frauen, sondern auch mit den Männern, die als Gefangene ihrer unmenschlichen Regeln zu Handlungen getrieben werden, die ihnen im Grunde ihres Herzens zutiefst widerstreben.
Wir haben es hier mit dem Roman einer türkischen Schriftstellerin zu tun, die den Weg einer muslimischen Familie über mehrere Generationen verfolgt, angefangen von einer kleinen Dorfgemeinschaft an den Ufern des Euphrat im Jahr 1945 bis ins Jahr 1992, als die Enkel- und Urenkel-Generation der anfangs beschriebenen Personen in London leben. Dazwischen sind unendlich viele Dinge geschehen und Schicksale beschrieben, die einen so sehr bewegen, dass man nicht aufhören kann zu lesen. Immer wieder hofft man, die beschriebenen Personen würden sich anders entscheiden als sie es tun, und man muss doch einsehen, dass sie es nicht können. Man hadert mit Naze, die nach acht Töchtern noch immer nicht zufrieden ist, weil sie unbedingt einen Sohn haben möchte, um dann bei der Geburt ihrer neunten Tochter zu sterben. Man hadert mit Adem, der sich in Jamila verliebt, diese aber nicht heiratet, weil sie wegen eines Nachbarschaftsstreits entführt und damit ihre Ehre befleckt wurde, obwohl klar ist, dass man ihr körperlich nichts angetan hat. Man möchte ihn verachten, weil er statt Jamila deren Zwillingsschwester Pembe heiratet und damit drei Menschen unglücklich macht. Man hadert mit Pembe, weil sie ihren Erstgeborenen, Iskander, ohne Maß verzieht. Er wird seine Mutter töten, in dem Augenblick als sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein bisschen Glück und Wärme gefunden hat.
Nein, das ist alles schwer zu ertragen. Aber man nimmt auch notgedrungen den Blick der nach England Gekommenen ein auf die Einheimischen und damit auf alle, die sich mit den Werten der westlichen Welt identifizieren. Man versteht das Entsetzen der Fremden, ihre Abscheu vor der Unmoral, der Dekadenz der Menschen, die in ihren Augen keine Scham kennen, nicht in ihrer Art sich zu kleiden, nicht in ihrem ganzen Verhalten. Man begreift, dass eine Annäherung zwischen diesen Welten, eine Integration, wie es heute so gerne heißt, der einen in die andere Kultur, ungeheuer schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist.
Und doch gibt es einen Hoffnungsschimmer: Esma, die Schwester Iskanders, und Yunus, sein jüngerer Bruder, scheinen in London und trotz der tragischen Ereignisse ein selbst bestimmtes Leben und somit ihr persönliches Glück erreicht zu haben. Keine leichte Kost.