Hallo zusammen,
Beate Kehren-Böhm hat mal wieder ihr Archiv für uns geöffnet. Heraus kam eine spannende Geschichte aus der Besatzungszeit. Lest mal rein, ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte…
Krieg und Frieden
Das Thema „Krieg und Frieden“ begleitet uns mehr oder weniger schon seit Jahren und mein Beitrag dazu ist eine Geschichte aus der belgischen Besatzungszeit. Diesen Bericht bekam ich 1989 aus einem Nachlass (Verfasser unbekannt) auf dem damals üblichen „Seidenpapier“ geschrieben. Das Original habe ich 2005 dem „Arbeitskreis Heimat“ in Fischeln überlassen.
Aus Fischelns Besatzungszeit
Bericht von einem Zeitzeugen – Original übertragen
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In kurzen Zügen soll im folgenden ein Bericht gegeben werden über die Zeit der Besatzung. Viel besonderes ist nicht zu melden.
Alle die 1000 Eingriffe, die mit der Besatzung verbunden waren, in die Freiheit des Einzelnen, der Gemeinde und der Verwaltung sollen nicht im Einzelnen behandelt werden. Diese liegen ja fest in den Generalakten jener Zeit, in den zahllosen Avis und Ordonancen der Militär- und Zivilbehörden der Alliierten. Was sie anordnen, erstreckt sich ja über die ganze 4. Zone, sodaß Fischeln ohne Weiteres all den vielen Unannehmlichkeiten, die sie vorschrieben, unterworfen war. Es soll darum lediglich das Eine oder auch Andere, das Ortsbedeutung hatte, in den folgenden Zeilen für die Nachwelt festgehalten werden.
Am 7.Dezember 1918 zog eine belgische Division in Krefeld ein und die ersten dreisprachigen Verfügungen erschienen an den Anschlagsäulen. Wenige Tage später am 10.12.1918 rückten in Fischeln 800 Mann Feldartillerie ein, die in Bürgerquartieren untergebracht wurden. Obschon versucht wurde die Verteilung der Einquartierung mit den Quartiermachern unter Zuhülfenahme des das Französische gewandt beherrschenden Herrn Pitsch von hier möglichst rasch zu erledigen, was mit Rücksicht auf die Unterbringung der Pferde sehr schwierig war und die Truppen möglichst enge zusammen gelegt werden sollten, kam es zu Beschwerden des Kommandanten hierüber, sodaß der Bürgermeister wie auch der Landrat sich hierzu äußern mußten, worauf die Sache auf sich beruhen blieb.
Zur besseren und leichteren Orientierung mußten sogleich an den Ortseingängen große Schilder mit den Ortsnamen und Richtungsschildern zu den Nachbarorten angebracht werden. Gleichzeitig begann die Bahn- und Postsperre; der Verkehr mit dem rechtsrheinischen Gebiet war vollständig unterbunden, für das Verlassen des Ortes waren Geleitscheine nötig; innerhalb weniger Tage mußten alle über 14 Jahre alten Leute einen Personalausweis mit Lichtbild haben, hinter jeder Haustüre waren Hauslisten anzubringen usw. usw.
Am 11. 12. 18 war die erste Pferdemusterung auf dem Marienplatz. Bei der Gelegenheit wurden 23 Pferde requiriert. Verhängnisvoll war dabei die Auffassung der belgischen Behörden gegenüber jener der deutschen bezgl. des Begriffes Kriegsbeute. solche Pferderequisitionen folgten in großer Anzahl, insgesamt sind an unserem Orte 194 Pferde beschlagnahmt worden. Bei einer dieser Requisitionen bat ein Bauer, dem man schon verschiedentlich Pferde genommen hatte, den leitenden Offizier, man möge ihm doch sein Tier lassen, da er schon zwei abgegeben hätte, worauf dieser stolz antwortete:“ C’est le jus du conquérant!“
Am 16. Dezember 1919 rückte die für Fischeln bestimmte Besatzung in Stärke von 3 Batterien und 350 Mann Infanterie hier ein. Vom 20.6.19 ab wurden die Mannschaften in Sälen unter-gebracht; lediglich Offiziere, Feldwebel und Stäbe lagen noch in Privatquartieren.
In der Marienschule war eine Wachstube eingerichtet, sodaß verschiedentlich der Unterricht ausfallen mußte. Auch in der Südschule war ein Raum requiriert und im Juli 1919 wurde dort ein zweiter Raum für Besatzungszwecke in Anspruch genommen. In den Schulräumen betrug sich die Soldateska ziemlich rüde, Bilder wurden zerschlagen, Türen an den Schränken eingestoßen, und die Aborte wurden unwegsam.
Anfang April wechselt die Besatzung; waren bis dahin größtenteils ältere Soldaten hier, so kamen nun erheblich jüngere Jahrgänge, deren Benehmen gegenüber der Bevölkerung bedeutend rücksichtsloser und zügelloser war.
Am Weihnachtsabend 1919 mußte Fräulein Dolbaum noch um 12 Uhr abends ein Bad richten für den bei A. Buscher wohnenden Offizier und seine Frau. Auch sonst waren mit der Einquartierung viele Unanehmlichkeiten verbunden. Am unangenehmsten wurde es empfunden, daß die Besatzung mit „Madame“ logierten, wobei „Madame“ sehr oft eine Freundin war.
Im Juni kam es in Krefeld zu groben Ausschreitungen der Besatzungstruppen. Die Folge davon war auch hier Geschäftsschluß um 5 Uhr, die Straßenbahnen durften nur bis 5 Uhr verkehren und es wurde der Belagerungszustand erklärt. Erst am 2. Juli 1919 wurde der Tag- und Nachtverkehr freigegeben, sodaß man fürderhin einen besondern „Nachtschein“ nicht mehr brauchte. Und als Ende Juli das große internationale Rennen in Krefeld war, wurden die Straßenbahner, die gerade streikten, dazu gezwungen, einige Stunden zu fahren. Um aber der Gesellschaft das Verdienst nicht zukommen zu lassen, kassierten die Schaffner an dem Tage nicht, sodaß jeder frei fahren konnte.
Die Kommandantur wurde bei Wolf (Marienstr. – Clemensstr.) eingerichtet bis sie an 19.12.1918 an der Düsseldorferstraße 87 untergebracht wurde. Diesem Kommando unterstanden die beiden Gemeinden Fischeln und Osterath. Am 17.6.19. wurde die eigene Kommandantur aufgehoben und Fischeln wurde Krefeld unterstellt. Am 8.7.1919 wurde die Kommandantur Fischeln wieder eingerichtet und am 12.9.19 nach Osterath verlegt. Am 6.1.1920 verließ die hiesige Besatzung unseren Ort, nachdem am Tage vorher ein betrunkener Soldat die Frau des Wirtes Heinrich Wolf von der Marienstraße erschossen hatte. Der Soldat wollte abends nach 10 Uhr noch in die Wirtschaft, die Tür war aber bereits geschlossen. Als ihm auf mehrmaliges Klopfen und Rufen nicht geöffnet wurde, lief der Soldat in sein nahegelegenes Quartier auf der Clemensstraße (bei Nobisrath) holte seinen Karabiner und schoß durch die Tür. Dabei traf er die Wirtin in den Kopf sodaß sie kurz darauf starb. Der Soldat wurde vom belgischen Kriegsgericht am 16. Juli 1920 zu Zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Während des Ruhrkampfes wurde der Arbeiter Scholtisseck beim Ueberschreiten des Bahndammes an der Gladbacherstraße von einem angetrunkenen belgischen Posten angeschossen und am Beim so schwer verletzt, daß er noch heute Rente beziehen muß.
Wie die Besatzung ihren guten Ruf sicherte, zeige nur ein Beispiel. Beim Wirt Holzapfel wurde kurz vor dem Abrücken der Besatzung ein Motor nächtlicherweise gestohlen und auf dem Grundstück des Schmiedes Wolf unter der Asche vergraben. Dort fand er sich zufällig. Jetzt erinnerte sich Wolf, daß einige Tage vorher die bei ihm quartierten belgischen Soldaten nachts mit ölbeschmutzten Händen aus dem Hof gekommen waren. Da er den Verdacht äußerte, wurden Holzapfel und Wolf vors Militärgericht nach Krefeld geladen, wo ihnen dann von ihrem Verteidiger Dr. Meyer geraten wurde, zu erklären, daß sie keinen belgischen Soldaten in Verdacht hätten, da die gegenteilige Behauptung ihnen schädlich wäre. So hatte die Besatzung die eidliche Erklärung, daß kein Soldat in Frage käme.
Dem Wirt P. Hüttenes wurde von 2 belgischen Soldaten in seiner Wirtschaft eine Brieftasche mit 900,- Mk. entrissen. Beim Appell glaubte er die beiden wieder zuerkennen, wagt aber nicht sie zu bezeichnen. Nach dem Appell erklärte ihm dann ein Belgier, es wäre sein Glück gewesen, daß er keinen bezeichnet hätte; der Kommandant hätte ihn sicherlich einstecken lassen.
Einige Einzelheiten aus der Besatzungszeit sollen nun noch erwähnt werden: Die Bestimmung bezgl. des Aufenthaltes im linksrh. Gebiet für solche, die nicht hier geboren, traf auch für verschiedene Arbeiter des Stahlwerks zu; doch wurde ihrem Gesuch um Aufenthaltsgenehmigung stattgegeben.
An der Düssesdorferstraße 87 wurde ein Offizierskasino eingerichtet. Die dafür beschaffenen Einrichtungsstücke wirkten aber nicht einheitlich genug, darum wurden die requirierten Sachen zurückgegeben und in Krefeld mußte eine ganz neue Einrichtung hierfür besorgt werden. Für das Kasino hatte die Gemeinde zu liefern:
Butter, Milch, Wein, Eier u.a.m. Im übrigen griff die Besatzung ziemlich in alle Dinge ein, orientierte sich über alles und jedes. Zunächst einmal erklärte sie alle deutschen Gesetze, die nach dem 12.12.1918 erschienen, als ungültig für das besetzte Gebiet und der Regierungspräsident mußte den selbstverständlichen Vorrang aller Besatzungsverfügungen gegenüber seinen eigenen Anordnungen verfügen. Der Dienstverkehr mit der Besatzung mußte in französischer Sprache erfolgen. Eingaben in deutschen Lettern wurden als „unleserlich“ zurück-gegeben. Hindenburgs Dank an die Bevölkerung vom 23.2.19 durfte nicht veröffentlicht werden. Die Bildung und der Uebertritt zu Ostschutzformationen im Januar 1919 wurde untersagt. Die Verfolgung und Bestrafung deutscher Deserteure wurde verboten.
Bis Ende Juli 1919 mußten sich die ehemaligen Reserveoffiziere allwöchentlich zur Kontrolle melden. Auch weiterhin wurde von Ihnen ein besonderer Ausweis verlangt. Alle Männer der Jahrgänge 1868 -1901 mußten sich zu einer besonderen Kontrolle auf dem Rathaus einfinden. Prozessionen und Umzüge waren verboten; so durften am Weißen Sonntag 1919 die Kommunionkinder nicht wie üblich am Marienplatz abgeholt werden. Ebenso war das Flaggen der HÄUSER AN DEM Tage verboten; später war nur das Flaggen in den deutschen Nationalfarben untersagt; im übrigen mußte es 48 Stunden vorher beim Kreisdelegierten beantragt werden. Auch die Markusprozession war untersagt, doch fand diese infolge eines Irrtums doch statt. Die Fronleichnamsprozession durfte zwar, nachdem sie anfänglich verboten war, abgehalten werden; doch war das Böllerschießen beim Segen untersagt. Auf Befehl der Besatzung mußten die Bilder des belgischen Königspaares in verschiedenen Schaufenstern mehrere Tage ausgestellt werden. Immer wieder wurden Bahn- und Postverkehr für Tage und Wochen unterbunden. Selbst innerhalb des besetzten Gebietes wurden die Reisegesuche wiederholt abgelehnt. Die Gemeinderatswahlen im Frühjahr 1919 wurden anfänglich untersagt. Später wurden sie genehmigt, nachdem zuvor die Wahlvorschläge mit Kennzeichnung der politischen Stellung der einzelnen Kandidaten eingereicht worden waren. Wahlversammlungen mußten 48 Stunden vorher angemeldet werden und wurden stets durch einen belgischen Beamten überwacht, der vor allem darauf achtete, daß nur die vorher gemeldeten Redner sprachen. Die Anheftung von Plakaten für die Wahl wurde ausdrücklich untersagt. Dem Kontrolleur der Zivilverwaltung mußte die gesamte Dienstpost Rechtsrheinisch expeditionsfertig abgegeben werden, der sie nach Prüfung weitergab. Die Section économieque interessierte sich in langen Fragebogen für das gesamte Wirtschaftsleben, für Einrichtung und Betrieb der hiesigen Werke, für ihre Erzeugung und den Absatz. Der Zivilkontrolleur verlangte Pferde- und Rindviehlisten, die stets auf dem laufenden Tagesbestand zu halten waren. Im September 1919 war ihm eine Liste aller Obstbäume der Gemeinde einzureichen und im Dezember 1920 erkundigte er sich nach dem Kubikinhalt des Gasometers. Er verlangte Auskünfte über das Steueraufkommen, die Monatsabschlüße der Gemeinde- und Sparkasse mußten vorgelegt werden. Dazu mußten der ganze Briefwechsel mit der H.C.J.A. alle Berichte und Aufstellungen stets in 4 bzw. 6 facher Ausfertigung eingereicht werden. Selbstverständlich durften alle Veröffentlichungen und Anschläge erst nach erfolgter Censur erfolgen. Als die Entwertung kam, mußten alle Waren in deutscher Währung ausgezeichnet sein
Verschiedentlich wurden Wirtschaften für mehrere Tage geschlossen z.B. Holzapfel 3.1. – 17.1.1919 / Ballmann und Fink 20.5.1919 für 8 Tage / Plück und Holzapfel 4.6.1919 für 8 Tage. Die Polizeistunde für den Straßenverkehr war teilweise auf 8 Uhr später wurde sie auf 8 1/2 bezw. 9 1/2 Uhr festgesetzt. In den Schulen wurden alle Uebungen untersagt, die nur im Geringsten nach militärischen Uebungen aussahen z.B. Schulwanderungen, Marsch in Reihen zu vier, in Gruppen usw. Bei Anstellung von Beamten beanspruchte die Besatzungsbehörde ein Genehmigungsrecht, wodurch es besonders schwierig war, Angestellte aus dem rechtsrheinischen Gebiet zu bekommen. Auch über anderen Veränderungen im Beamtenapparat durch Tod, Amtsniederlegung, Krankheit und Urlaub verlangt die Besatzung Mitteilung und behielt sich Einspruch vor. So gab es kein Gebiete, in das die Besatzung nicht eingegriffen hätte; gewiß, man gewöhnte sich nach und nach daran, daß die belgische Flagge auf dem Rathaus wehte; die uniformierten Beamten grüßten die Offiziere der Besatzung nach Vorschrift, jedoch Fahnentrupps ging man nach Möglichkeit aus dem Wege, um die ruhmreichen belgischen Fahnen nicht grüßen zu müssen; sobald man einen belgischen Posten sah, verließ man den Bürgersteig, um nicht von diesem unsanft hinabgestoßen zu werden. Die Verwaltung ertrug die drückende, unangenehme Beaufsichtigung ihrer ganzen Arbeit in der stillen Hoffnung auf andere Zeiten.
Das ist wieder einmal ein sehr interessanter Bericht, den Beate verfasst hat. Vieles aus der Zeit war und ist unserer Generation ja nicht bekannt gewesen. Es war ja eine harte Zeit, die die Generation unserer Eltern und Großeltern durchmachen musste. Vielen Dank für den Artikel, der mit Sicherheit mit viel Recherche verbunden war.
zu den Fotos gibt es noch einen Nachtrag:
Auf der alten Postkarte aus meiner Sammlung ist das ehemalige Krankenhaus in Fischeln an der Anrather-Strasse zu sehen. Heute befindet sich hier ein Kindergarten.
Die anderen Fotos kommen aus dem AKH-Fischeln und zeigen die Marienstrasse, links bei den Bäumen befindet sich der Marienplatz. Wo die Aufnahme der Soldaten in Fischeln entstanden ist, kann ich leider nicht sagen.
Es war bstimmt nicht leicht für die Bevölkerung, mit der Besatzung zu leben. Bestohlen zu werden, ohne sich wehren zu können ist wohl für keinen leicht. Auch die kleinen Widerwärtigkeiten, mit denen die Bürger damals drangsaliert wurden, taten bestimmt weh. Vielleicht war es auch deshalb für die Nationalsozialisten leichter, die Wähler später auf ihre Seite zu ziehen.
Viel Arbeit und Enthusiasmus, den die Verfasserin hier wieder gezeigt hat.