Joycelyne Saucier: Ein Leben mehr
Das ist eine merkwürdige kleine Geschichte von drei sehr alten Männern, die sich unabhängig von einander in die Tiefen der kanadischen Wälder von der Welt zurückgezogen haben. Sie haben sich jeder ihre eigene Hütte gebaut und leben in losem Kontakt bei einander. Sehr alte Männer heißt: wirklich sehr alt. Sie sind Ende 8o, Anfang 90, und einer ist, als die Geschichte anfängt, bereits seit zwei Tagen tot.
Eine Fotografin ist zu ihnen durchgedrungen, die auf der Suche nach eben jenem Toten ist, Ted Boychuck. Der war – die Geschichte spielt 1996 oder 1998 –
einer der Überlebenden der Großen Brände von 1916, von denen die Fotografin viele bereits aufgesucht hat. Immer wieder war in den Berichten der anderen Überlebenden von diesem Boychuck die Rede, wie er als Junge oder junger Mann von 15 Jahren wie ein Geist durch die verkohlten Stätten gewandert war.
Es spielen noch anderer Menschen eine Rolle in dem Roman: Steve, der am Rande des Waldes und sozusagen am Ende der Welt ein Hotel unterhält, in dem nur sehr selten, in der Jagd- und Angelsaison Leute unterkommen, und Bruno, der mit Steves Hilfe im Wald bei den Männern eine Haschisch-Plantage unterhält. Beide sind der notwendige Kontakt der alten Männer zur Außenwelt. Da fängt es dann an, irgendwie unglaubwürdig zu werden. Auch, weil Bruno seine alte, 82jährige Tante mitbringt, die ihr Leben lang unberechtigterweise in einer Irrenanstalt eingesperrt war. Diese Marie-Desneige, wie sie mit falschem Namen genannt wird, damit sie niemand findet und wieder in die Anstalt zurückbringen kann, wird von den beiden übrig gebliebenen Alten aufgenommen in ihre Einsamkeit. Man baut ihr eine komfortable Hütte und Charlie wird sich besonders um sie kümmern, ja es entspinnt sich eine rührende Altersliebesgeschichte. Auch die Fotografin taucht wieder auf, wird von Marie-Desneige als Freundin akzeptiert und darf bleiben, das heißt, wie Steve und Bruno kommen und gehen. Die Lebensgeschichten der Alten, vor allem auch die Geschichte von Boychuck und den großen Bränden werden in einzelnen Kapiteln erzählt. Warum am Anfang des Buches die Fotografin, Steve und Bruno jeweils ein Kapitel aus ihrer Sicht erzählen, der Rest des Romans aber dann in der dritten Person geschrieben ist, ist mir nicht recht erfindlich. Es stört aber auch nicht weiter.
Das Buch ist ein schönes Märchen vom Traum von Unabhängigkeit im Leben und vor allem vom Recht auf den eigenen, selbstbestimmten Tod. Denn der Tod ist in diesen Kreisen allgegenwärtig. Schließlich wird die Geschichte, man möchte sagen „geordnet“ zu Ende gebracht. Für Charlie und Marie-Desneige ist es ein tröstliches Ende, für Tom, den anderen alten Mann, eines wie gewünscht, während Bruno und Steve mit ihrer Plantage auffliegen und die Fotografin einfach ins normale Leben zurückkehrt.
Brigitte Tietzel