Vielleicht ist es ein Fehler, diesen zweiten Band von Mantels Trilogie direkt hinter dem ersten, „Wölfe“, zu lesen, die im Abstand von einigen Jahren entstanden. Denn dadurch wird der Unterschied zwischen beiden, so meine ich, sehr deutlich. Auch wenn wieder eine bunte Fülle von höfischen Szenarien mit all den dazu gehörigen Intrigen vor dem Auge des Lesers entfaltet wird, fehlt hier doch die Spannung, die unvergleichliche Dynamik des ersten Bandes. Denn was sich dort in den Jahren zwischen 1500 und 1535 entwickelt, konnte einen in Atem halten, während der zweite Band lediglich ein knappes Jahr beschreibt – Herbst 1535 bis Sommer 1536 – und sozusagen einen Status quo wiedergibt. Es geschieht nicht viel, auch wenn die wenigen Ereignisse den Lauf der Geschichte wieder dramatisch verändern werden.
Königin Katherine, die abgeschobene, zur Prinzessinwitwe degradierte erste Frau Heinrichs VIII., stirbt (endlich), es bleibt offen, ob eines natürlichen Todes oder ob sie doch vergiftet wurde, wie man natürlich sofort mutmaßte. Der König wendet sich von seiner zweiten Frau, Anne Boleyn, ab, deren Anmaßung, Überheblichkeit und Gefühlskälte ihn schließlich abstoßen. Ihre erneute Schwangerschaft endet in einer zweiten Fehlgeburt. Die Tatsache, dass erste Gerüchte auftauchen, dieses Kind sei gar nicht vom König, lässt bereits das böse Ende ahnen. Ausschlaggebend für die weitere Entwicklung ist aber, dass der König sich in Jane Seymour verliebt.
In diesem ganzen Geschehen spielt Thomas Cromwell weiterhin die Hauptrolle. Es ist seine Sicht der Dinge, vor der alles behandelt wird. Aber hier ändert sich eben nicht viel. Hilary Mantel hat sich in einem Nachwort erklärt und darauf hingewiesen, dass es sehr wenig gesicherte Fakten über den Mann selber gibt aus dieser Zeit. So ist man ganz auf die Phantasie der Autorin angewiesen. Das ist keineswegs ein Nachteil, weil sie so gut erzählt. Aber der Gang der Geschichte ist einfach weniger spannend.
Auch über die Gründe und den Verlauf, die zu Anne Boleyns Niedergang und Hinrichtung führen, gibt es nur wenige und widersprüchliche zeitgenössische Angaben. Aber dieser Teil des Buches nimmt wieder Fahrt auf. Man spürt in jeder Zeile, dass es hier nicht darum geht, eine bösartige Frau ihrer gerechten Strafe zuzuführen, vielmehr könnte den unausweichlichen Gang ihres Schicksals keine Gerechtigkeit der Welt ändern, weil der König es so will. Da wirft kein gutes Licht auf diesen Herrscher, dem an anderer Stelle durchaus unsere Sympathien gelten. Es wirft auch kein gutes Licht auf das Land und das Jahrhundert. Allerdings kennen wir die grausamen und willkürlichen Machenschaften der Herrschenden, die in manchen Ländern durchaus mit denselben schrecklichen Folgen für das Leben der Opfer enden, ja leider auch aus unserer Zeit.
Der dritte Band, so darf man vermuten, dürfte durch den Strom der zahlreichen, tatsächlichen Ereignisse wieder mitreißender werden.
Brigitte Tietzel