Den Namen der Ich-Erzählerin erfahren wir erst ziemlich am Ende des Buches, als sie einen Brief an ihre tote Freundin schreibt: Gaia. Alle anderen Personen nennt sie bei ihren Namen, und vor allem die Mutter wird immer als Antonia bezeichnet. Darin deutet sich an, dass Antonia die Bestimmende ist und Gaia, die praktisch Namenlose, Gesichtslose, Unbedeutende, den Einflüssen der Umstände, dem Willen der anderen ausgesetzt.
Die Familie wächst in prekären Verhältnissen auf, wie sie in Italien heute noch möglich, in Deutschland weitgehend unbekannt sind. Der Vater arbeitet illegal auf dem Bau, hat einen Unfall, der ihn querschnittsgelähmt zurücklässt und erhält nun keinerlei finanzielle Hilfe, weder durch eine Krankenversicherung, noch sonst durch den Staat. Antonia hat vier Kinder, außer Gaia noch deren älteren Bruder und sehr viel jüngere Zwillinge. Sie kämpft gegen die Armut, besorgt, was immer nötig ist auf unvorstellbar tapfere Weise: eine Wohnung, Kleidung und Möbel vom Flohmarkt, Essen. Aus dem viel zu teuren Rom zieht die Familie in eine Sozialwohnung am Braccianer See. Antonia arbeitet dort als Putzfrau und ist bald anerkannt und überall beliebt, während Gaia und ihr Bruder nur ihre Defizite sehen und die Mutter, die sie am Leben erhält, hassen für all ihre Bemühungen, die den Mangel erst so richtig verdeutlichen. Gaia wird aufs Gymnasium geschickt, und die Mutter dringt auf sie ein, dass der einzige Weg hinaus aus diesem Leben für Gaia das Lernen ist. Ohne Freude aber mit einer Verbissenheit, die an Selbstaufgabe grenzt, gelingt es ihr nicht nur, das Abitur zu machen, sondern auch das Universitätsstudium zu absolvieren. Dass dies trotzdem nicht zur Erlösung führt, liegt an den italienischen Verhältnissen, die sozialen Aufsteigern ohne Verbindungen keine Chancen einräumen.
Die Kindheit und Jugend dieser Gaia werden von ihr selber in analytischer Kälte beschrieben. Sie betrachtet sich und ihre Umgebung, die Klassenkameraden, ihre Freundinnen und die jungen Männer, die schließlich eine Rolle spielen in ihrem Leben, aus einer abschätzenden Distanz, die den Leser bisweilen schaudern lässt. Gaia leidet unter ihrer Armut, ihrer Ausgeschlossenheit, den Hänseleien der anderen, bis sie, da ist sie zwölf Jahre alt, begreift, dass sie sich wehren muss und einen ihrer Peiniger mit dem Tennisschläger brutal zusammenschlägt. Auch weiterhin wird Gewalt für sie ein Mittel sein, sich aus Situationen zu befreien, in denen sie emotional in die Enge getrieben wird. Das ist so klar und nachvollziehbar geschrieben wie alle Erlebnisse, in denen die Sorgen und Nöte, aber auch die Freuden der Entwicklung eines jungen Menschen geschildert werden. Der Zwiespalt in dem Gaia aufwächst, ihre Enttäuschungen, ihre schließliche Selbstfindung, all das beschreibt die Autorin in einer schnörkellosen, ausdrucksstaken Sprache. Caminito ist selber am Braccianer See groß geworden, und man kann annehmen, dass hier ihre eigenen Erfahrungen einfließen. Aber die Geschichte ist keineswegs bloß autobiographisch zu verstehen. Sie ist von einer viel umfassenderen Bedeutung. Großartig.
Brigitte Tietzel