Die achtzigjährige Autorin breitet in 29 Geschichten ihr Leben vor dem Leser aus. Es sind nicht wirklich Geschichten, eher kurze Episoden, oft nur Gedankensplitter, und dann doch auch ausführlichere Berichte, etwa darüber, wie ihr Leben angefangen hat. Da beschreibt sie, wie ihre Mutter, Tochter eines SPD Anhängers einen Mann kennenlernt, der Mitglied der NSDAP ist und sie bittet, ebenfalls in die Partei einzutreten, was sie tut. Die beiden heiraten, es gibt Krieg, die Tochter, Helga wird 1940 geboren, der Vater fällt, als sie noch nicht einmal zwei Jahre alt ist. Später wird die Mutter zu ihr sagen, sie habe drei Heldentaten in ihrem Leben vollbracht, sie habe ihre Tochter nicht abgetrieben, sie durch die Flucht gerettet und sie nicht umgebracht, als die Russen kamen. Diese Mutter aber, die einhundert und ein Jahr alt werden sollte, hat ihre Tochter ein Leben lang mit Kälte und Verachtung gestraft, schon weil sie kein Sohn geworden war. Und einmal versteigt sie sich zu der Bemerkung: „Wärest du doch auf der Flucht gestorben“. Wie geht man damit um? Helga Schubert hat in einem Therapiegespräch mit einer evangelischen Pfarrerin, da war sie schon über 70, ihre Mutter 97 Jahre alt, gesagt, sie habe große Schwierigkeiten mit dem vierten Gebot: du sollst Vater und Mutter lieben. Sie könne ihre Mutter nicht lieben, und die Pfarrerin antwortet, das Gebot laute anders. Du sollst die Eltern ehren. Ehren, nicht lieben. Und das nun habe sie mit all ihrer Fürsorge für die alte Mutter getan. Zur Liebe könne man niemanden zwingen, nicht die Kinder, aber eben auch nicht die Eltern.
Man lernt viel aus diesem Buch, zum Beispiel auch, wie es einem Menschen in der DDR ergangen ist, der den Mangel an Freiheit, das Eingesperrtsein, als solches empfunden hat. Einmal durfte die Schriftstellerin zu einem Literaturkongress nach Amerika ausreisen und erlebte dort staunend die unendliche Weite der anderen Welt, außerhalb ihres Staates. Man kann die vielen Gedanken und Überlegungen der Autorin gut verstehen und nachempfinden. Man ist angerührt von der scheinbaren Gelassenheit, mit der sie die vielen harten Schläge in ihrem Leben hingenommen hat, ohne bitter zu werden und auch, mit welcher Freude und Dankbarkeit sie andererseits die vielen guten Dinge erkennt. So ist auch der Frieden, den sie mit der Mutter macht, glaubhaft.
Die letzte Episode: „Vom Aufstehen“ beschreibt in rührender Weise, aber ohne jedes Pathos, wie sie nun, am Ende ihres Lebens, sich um ihren Mann kümmert, der im Rollstuhl sitzt und wahrscheinlich dement auf ihre Hilfe angewiesen ist. Sie gibt ihm zurück, was er in den langen Jahren ihrer Ehe für sie getan hat. Um das zu verdeutlichen reicht das einfache Bild des Kaffeemachens am Morgen, das nun nicht mehr er für sie tut, sondern sie in großer Liebe und Selbstverständlichkeit für ihn. Was für ein schöner Rückblick auf ein Leben, dem die Autorin unendlich viel abgewinnen konnte.
Brigitte Tietzel