Das ist kein Roman. Der schmale Band enthält die Erinnerung an ein schreckliches Erlebnis aus dem Jahr 1952, als die Autorin zwölf Jahre alt war und ist die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen dieses Erlebnisses über 40 Jahre später. Denn erst 1995 gelang es Ernaux, wie sie darlegt, über das Geschehen zu sprechen, nein, es aufzuschreiben und damit sozusagen aus sich heraus zu holen. Und dann darüber nachzudenken. Denn erzählt hat sie davon in all den Jahren niemandem, nicht einmal einem ihrer Liebhaber.
Annie muss als Kind erleben, wie ihr Vater versucht, ihre Mutter umzubringen. Auch wenn er die Tat nicht zu Ende bringt, versteht das Kind doch, wie ernst es ihm damit im Augenblick war. Obwohl Annie das Erlebnis in so weit verdrängt, als sie eben mit niemandem je darüber sprechen wird – und auch die Eltern reden nie wieder davon, jedenfalls nicht mit Annie – sind die Folgen für das Mädchen gravierend. Nicht nur bleibt die Furcht präsent, der Vorfall könne sich wiederholen, schlimmer ist die Scham, die in Annies Erkenntnis besteht, dass sie nicht mehr zu den guten Familien zählen, dass in ihrer Familie etwas vorgefallen ist, dass sich ganz und gar nicht gehört. Erst über 40 Jahre später, ganz offensichtlich, spürte die Autorin dieser Wahrheit nach. Was war das damals, wer war sie selber. Es gelingt ihr nicht, auch nicht durch das Ansehen alter Photographien aus der Zeit, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Mädchen, das sie damals war und der erwachsenen Person von heute. Mit großer Sachlichkeit und scharfer Analyse gelingt es ihr, Fakten von damals zu sammeln, die ein genaues Bild vom geistigen und emotionalen Zustand des Kindes zeichnen. Sie nennt Ge- und Verbote, Verhaltensregeln, die damals gültig waren, allesamt Gemeinplätze: du sollst dieses tun und jenes lassen; was sollen die Leute von uns denken. Das wurde nicht hinterfragt und war ebenso Gesetz wie die Regeln der katholischen Schule, auf die Annie gehen durfte. Die streng gläubige Mutter, die sich der Armut und des niederen Standes ihrer Familie bewusst war, wollte ihrer Tochter durch diese Schule Aufstiegschancen bieten. Die durch den schrecklichen Vorfall vom Juli 1952 erwachte Scham wird Annie aber nicht mehr verlassen. Sie sieht und erfährt den Kontrast zwischen sich, d. h. der realen Welt ihres Zuhauses und der Welt, in die sie aufsteigen soll. Verkörpert etwa durch ein Hotelzimmer mit fließendem Wasser, das sie auf einer Reise nach Lourdes mit dem Vater kennenlernt oder in der Beobachtung, dass ein kleines Mädchen am Nebentisch sich mit seinem Vater unterhalten, ja lachen kann. Die Scham, als die Mutter einmal mit verdrecktem Nachthemd die Tür öffnet, als Anni von einer Lehrerin nach Hause gebracht wird. Es ist erschütternd zu denken, wie diese kleine Annie sich zur Schriftstellerin Annie Erneaux entwickeln konnte, unter jahrelanger Unterdrückung dieser Scham. Eine Unterdrückung von der sie sich erst über 40 Jahre später durch dieses Buch befreien konnte.
Brigitte Tietzel