J.M.G. le Clézio, Der Afrikaner
Vorfahren von J.M.G. Le Clézio, der 2008 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, sind im 18. Jahrhundert aus der Bretagne nach Mauritius ausgewandert. Das ist ein Inselstaat im Indischen Ozean, östlich von Madagaskar, der damals unter französischer Herrschaft stand, bis er 1810 von den Briten erobert wurde. Nachdem die Familie aus unbekannten Gründen aus ihrem Haus in Mauritius vertrieben wurde, wanderte Raoul, der Vater Le Clézios, 1919 von dort aus und studierte in London Tropenmedizin. Danach ging er zunächst nach British Guyana im Norden von Südamerika, bevor er 1928 für den Rest seines beruflichen Lebens nach Afrika kam. Er blieb dort 22 Jahre. Der Titel des Buchs, „Der Afrikaner“, meint diesen Vater, den Entwurzelten, den in die Welt Getriebenen, der sich weder in der Kolonialgesellschaft auf Mauritius, noch in der Afrikas wohl fühlte, und der der spießbürgerlichen Enge, die ihm eine Anstellung als Arzt in einem Southhamptoner Krankenhaus versprach, entfloh, noch ehe er die Stelle angetreten hatte.
Das alles erfährt man in diesem Büchlein und auch wie der Vater die Liebe fand in seiner französischen Cousine, Simone Le Clézio, und wie er mit ihr zusammen im Kamerun, im unerforschten Hinterland des kolonialisierten Afrika, das Leben fand, das er gesucht hatte: voller Freiheit und landschaftlicher Schönheit, mit dem Gefühl, eine sinnvolle Arbeit zu tun, und voller Zuversicht, dass dieses noch unschuldige, ursprüngliche Land tatsächlich zu retten sei. Und wir erfahren, wie dieser Traum platzte, wie der Zweite Weltkrieg den Vater von seiner Frau und seinen Kindern trennte, die in Frankreich blieben, wie sich seine Arbeit den sich verschlechternden politischen Verhältnissen in Afrika anpassen musste, wie die Frustration und Verbitterung schließlich überhand nahmen. Das ist eine traurige Geschichte.
Und traurig ist auch die andere Perspektive, die wir einnehmen auf diesen Mann aus der Sicht des achtjährigen Jean-Marie Gustave, der 1948 nach Afrika kommt und zum ersten Mal seinen Vater sieht. Während das Land auf ihn und seinen Bruder eine große Faszination ausübt, bleibt der Vater ein Fremder, einer, den man fürchten muss. Afrikas Weite empfinden die Jungen als befreiend, die Menschen sind freundlich, die Natur bedrohlich und gewalttätig, und doch macht diese neue Welt sie glücklich. Den Vater aber, diesen im Verlust seiner Ideale und Träume erstarrten Menschen, der sich allein durch soldatische Disziplin am Leben hält, verstehen sie nicht. Erst viel später, da ist die Familie wieder in Frankreich, erkennt der Sohn im Vater den Afrikaner, erkennt, wie viel dieses Land für ihn bedeutet hat. Fotos, die Raoul in Afrika gemacht hat und die dem Buch eingefügt sind, zeugen von dessen Liebe, seinem ungebrochenen Zugehörigkeitsgefühl zu dieser wunderbaren Welt. Auch der Sohn spürt, wie sehr ihn Afrika verändert hat. Es hat Le Clézio in seinem Leben weltweit an viele Orte verschlagen, aber die Bilder von Afrika, die sich in seinem Kopf verfestigt haben, scheinen seine eigentliche Heimat zu sein. Das Buch durchweht eine melancholische Stimmung, die sich eigentümlich auf den Leser überträgt.