Roy Jacobson: Die Unsichtbaren
Was weiß man schon über Norwegen, über die hoch im Norden gelegenen Inseln, die den Namen ihrer Besitzer tragen. Oder trugen. Wer weiß, wie es heute ist. Die Geschichte, die Roy Jacobson erzählt, spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, da war auch unsere Welt noch eine ganz andere, einfachere. Aber so gnadenlos reduziert aufs bloße Überleben dann wohl doch nicht. Die Insel heißt Barrøy, denn sie gehört Hans Barrøy, der hier ganz alleine mit seiner kleinen Familie wohnt. Sie ist umtost von einem wilden, kalten Meer. Die Natur, das Wetter bestimmen den Tagesablauf, den Lebensrhythmus. Das nimmt man hin, dem passt man sich an. Mit dem Wetter kann man nicht diskutieren. Die Menschen reden nicht viel, eigentlich nur über die wirklich wichtigen Dinge, die zur Bewältigung der Lebensumstände vonnöten sind. Alles andere versteht man auch ohne große Worte.
Die Abgeschiedenheit, das Ausgesetztsein an die Natur bringen es mit sich, dass nicht viel passiert im Sinne unseres modernen Verständnisses von erzählenswerten Ereignissen. Und doch hat dieser Roman etwas Atemloses, er zieht einen mit in diese Welt, in der eben doch viel geschieht, weil niemand dort je ohne Aufgabe ist. Man merkt es erst nicht, aber ich glaube, diese Eindringlichkeit kommt durch den Gebrauch des Präsens. Die Erzählform ist die der Gegenwart, das ganze Buch über, und das macht deutlich, so meine ich, dass die Menschen ihre ganze Aufmerksamkeit auf den jeweiligen Augenblick gerichtet halten müssen, um nicht unterzugehen.
Familie Barrøy, das sind Hans und seine Frau Maria, Hans’ Vater Martin, seine leicht zurückgebliebene Schwester Barbro, seine kleine Tochter Ingrid, die am Anfang des Buches drei, am Ende vielleicht 17 Jahre alt ist. Später kommt Barbros Sohn Lars hinzu, der ihr von einem für kurze Zeit auf der Insel arbeitenden Handwerker hinterlassen wurde. Es wird nichts weiter erzählt, als dass die Jahre vergehen. Hans fährt jeden Winter mit seinem Bruder zum Fischfang auf die Lofoten, was Geld bringt, aber auch Gefahren, und man ist jedes Mal froh, wenn die beiden wieder zu Hause sind. Ingrid und Lars wachsen auf, gehen in die Schule, wohin sie mit dem Boot gebracht werden, und übernehmen mit großer Selbstverständlichkeit Verantwortung.
Hans und Martin versuchen, Verbesserungen auf der Insel einzuführen, wobei die Rückschläge durch das Wetter, die Winterstürme klaglos hingenommen werden. Und doch ist diese harte Welt voller menschlicher Wärme, voller Liebe und Vertrauen. Ein Paradies auf Erden für die, die dort leben, auch wenn es einen als Außenstehenden schaudern lässt. Ein Buch, das zeigt, wie der Mensch sich die Welt mit Geduld und Klugheit und trotz aller Rückschläge untertan machen kann. Ein wunderbar leises Buch, das einen mit seiner klaren Sprache, die alles Überflüssige weg lässt, gefangen nimmt und in gewisser Weise im Leser eine Sehnsucht entfachen mag nach solch gradliniger Lebensweise.
Da diese winzigen Inseln vom Rest der Welt so völlig abgeschieden existieren, kann man seine Bewohner wohl zu Recht als „die Unsichtbaren“ bezeichnen.
Brigitte Tietzel