Tom Saller, Wenn Martha tanzt
Das ist wieder so eine Geschichte, die sich, oder besser, die dem Autor, als solche nicht zu genügen scheint, die ganz viel möchte: eine Jugend in Pommern am Anfang des 20. Jahrhunderts erzählen, das Bauhaus mitnehmen – im nächsten Jahr feiert die Gründung des Bauhauses 100jähriges Jubiläum – den New Yorker Kunstmarkt beschwören und dann auch noch den Zerfall der Twin Towers streifen. Kein Wunder demnach, dass auch alle im Roman beschriebenen Beziehungen nicht so sind, wie sie scheinen, sondern viel komplizierter. Das aber kann man akzeptieren, denn das Leben ist nun mal nicht geradlinig.
Das Bauhaus muss sein, weil Martha dort ihr Tage- und Skizzenbuch von berühmten Künstlern verzieren lässt, so dass es Jahrzehnte später von ihrem Urenkel in New York zur Versteigerung gegeben werden kann. Dieser Urenkel ist eher unbedarft und tut nicht viel zur Sache, außer dass er im Nachlass seiner Oma, Marthas Tochter, den bedeutenden Fund gemacht hat.
Aber die eigentliche Geschichte ist wunderbar: wie diese Martha in der Familie ihres Vaters, eines Kapellmeisters, in einer kleinen Stadt in Pommern aufwächst mit der Musik, die sie von morgens bis abends umfängt und begleitet, und die sie sozusagen sehen kann, nicht hören; wie sie eine sehr eigene Art hat, diese Musik in Bewegung umzusetzen und Töne auf einer Geige zu produzieren, die andere Menschen, gelinde gesagt, in Erstaunen versetzt; die Freundschaften, die sie schließ; wie sie aufwächst und sich entwickelt, das hat etwas Zauberhaftes und nimmt einen ganz gefangen. Martha verspürt den Drang, aus der Enge dieser geborgenen pommerschen Welt auszubrechen, und deswegen verschlägt es sie nach Dessau, ans Bauhaus. Aber sie bleibt dort nur kurze Zeit, ihre Beziehungen zu den anderen Schülern bleiben ebenso vage wie die zu den Lehrern, mit Ausnahme von Gropius, der ein geheimnisvolles Interesse an ihr hat. Die Erklärung dieses Umstands bringt die Geschichte allerdings nicht weiter und scheint mir eines von diesen zusätzlichen Unnötigkeiten, die die Geschichte aufblasen. Allein die Beziehung zu einer Frau, Ella, hat wirklich Bedeutung für Martha. Als sie nach wenigen Jahren mit einem Kind in die Heimat zurückkehrt, um in eben der Enge zu leben, die sie vorher fliehen wollte, führt das zum Kern ihrer Existenz, der aber weiterhin unberührt bleibt. Ein kurzer Satz jedoch könnte dem Leser den Schlüssel zu ihrem Leben geben. Alle fragen nach dem Vater des Kindes, dessen Namen Martha nicht preis geben wird. Und sie wundert sich, dass niemand nach der Mutter fragt.
Dann kommen die Nazis, die heile pommersche Welt wird aufgemischt, Martha flieht mit ihrer nunmehr halbwüchsigen Tochter Hedi. Ausgerechnet auf der „Wilhelm Gustloff“ wollen sie das Land verlassen, dem Schiff, das untergehen und zehntausenden Menschen den Tod bringen wird. Die beiden werden getrennt, Martha vom Schiff vertrieben, ehe es ausläuft. Sie glaubt, ihre Tochter sei unter den Toten.
Schade, dass die Auflösung all der komplizierten, traurigen Verhältnisse und Begebenheiten 101 Jahr nach Marthas Geburt, 2001, in der Nacht vor dem Anschlag auf die Twin Towers dem Urenkel gegeben wird, der mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun hat. Denn Marthas Schicksal wird nicht interessant durch die vielen äußeren Umstände, die da heraufbeschworen werden, sondern liegen in ihren Anlagen, in ihrem wunderbaren, einzigartigen Charakter. Darauf hätte der Autor vertrauen können.
Brigitte Tietzel