John Hirst, Die kürzeste Geschichte Europas
Das ist eine sehr ungewöhnliche und kühne Idee des australischen Historikers John Hirst, auf so wenigen (ca. 200) Seiten die gesamte europäische Geschichte vom griechischen Altertum über das Mittelalter bis zur Neuzeit zu schreiben, wobei er um 18oo aufhört, sozusagen mit der französischen Revolution. Aber es funktioniert. Der Verzicht auf unendlich viele Fakten, Namen, Ereignisse geht Hand in Hand mit der Konzentration auf die großen Zusammenhänge, die der Motor für Veränderungen gewesen sind. Nach den Griechen kamen die Römer, dann fielen die Germanen in das römische Reich ein, die zwar Länder erobern, aber nicht führen konnten. Die Renaissance in Italien hat die westliche Welt ebenso geprägt wie die Reformation in Deutschland, die parlamentarische Regierungsform in England und die französische Revolution.
Hirst beschreibt die Bedeutung von Bildung und Wissenschaft bei den Griechen und Römern, erzählt wie das Christentum Einzug in die Gesellschaft hält und das Gedankengut beeinflusst. Er macht aufmerksam auf einfache aber weitreichende Beobachtungen wie der, dass die griechischen Gelehrten vor allem in der Mathematik die Antwort auf alle wesentlichen Fragen suchten, und dass ihre Autorität, obwohl sie sich häufig irrten, erst im 17. Jahrhundert durch die Erkenntnisse der neueren Naturwissenschaft außer Kraft gesetzt wurde.
Er zeigt, dass die Römer, die sich in Bildung und Kunst weitgehend von den Griechen beeinflussen ließen, diesen in einer Sache, nämlich dem Recht und der Rechtsprechung, überlegen waren (Codex Justinianus, 6. Jahrhundert). Er erinnert daran, dass im europäischen Mittelalter das Phänomen der Ritterlichkeit auftauchte, das die Verehrung der Frau mit sich brachte und damit den Respekt vor ihr möglich machte, und dass es etwas Entsprechendes in den arabischen Ländern nicht gab.
Und hätten Sie gedacht, dass die englische Sprache einen größeren Wortschatz hat als die deutsche oder französische? Durch die verschiedenen Eroberungen (Römer, Germanen, Normannen) sind viele Wörter aus deren unterschiedlichen Sprachen in das Englische eingegangen. Das Buch ist voller interessanter Hinweise dieser Art. Immerzu hat man das Gefühl, dass einem ein Licht aufgeht. Hirst erreicht das, indem er der Beschreibung der allgemeinen Geschichte, die er an den Anfang des Buches stellt, sechs Kapitel anfügt, die dieselbe Geschichte noch einmal unter bestimmten Gesichtspunkten beleuchten: Eroberungen, Staatsformen, Sprachen, Kaiser und Papst, und das einfache Volk.
Am Ende betont der Autor die Besonderheit Europas, die in seiner Zerrissenheit und Vielfältigkeit lag, in seiner Offenheit und Rivalität der Völker und Staaten untereinander; im Gegensatz etwa zu den machtvollen Imperien wie China, Indien oder das osmanische Reich, die vielfach vom Willen eines Herrschers bestimmt, aber dadurch auch in ihrer Entwicklung behindert und eingeengt wurden.
Ein ungeheuer anregendes Buch, das einem in vielerlei Hinsicht die Augen öffnet.